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Der Stickermarkt
Spaß und Verantwortung: Unsere Kolumnistin handelt mit Glitzies, Glasies und Normalies
Gestern traf ich mich zum Abendessen in einem Kreuzberger Biergarten mit meinem guten Freund A. – er ist besonders charmant, hat braune Locken, spricht diverse Sprachen und ist gerade acht Jahre alt geworden. Wir sehen uns regelmäßig. Nicht nur, um zusammen Schnitzel zu essen, sondern auch, weil wir in gewisser Weise geschäftlich verbunden sind: A. und ich tauschen Sticker.
Auf die Dreißig zugehend, bin ich immer noch im Besitz meiner Stickerhefte aus den frühen 2000ern. Das liegt daran, dass meine Mutter mich vergangenes Jahr dazu zwang, ihren Keller von meinem Kinderspielzeug zu befreien. Seitdem versuche ich ständig, Kuscheltiere und Bilderbücher an meine noch-nicht-erwachsenen (oder nicht-menschlichen) Freund*innen zu verschenken – zum Leidwesen von deren Eltern oder Besitzer*innen. Meine dreijährige Freundin H. suchte sich zum Beispiel ein hellbraunes Kuschelpferd aus, das ihr fast bis zum Bauchnabel reicht.
Es bekam von ihr, rührenderweise, meinen Vornamen. Bei Sissi, einem Mini-Shih-Tzu, war das Größenverhältnis noch drastischer. Sie bekam zu ihrem ersten Geburtstag eine knallblaue Kermit-Puppe mit Stielaugen aus Hartplastik, die ihre eigene (zugegeben sehr geringe) Körpergröße sogar überschritt.
Meine Beanie-Babies-Sammlung entpuppte sich dagegen als echte Geldquelle: Die Spielzeuge mit dem herzförmigen Logo am Ohr waren in den Jahrzehnten meines Erwachsenwerdens zu Sammlerstücken geworden – man konnte sie nun, über Ebay Kleinanzeigen, teuer verkaufen. Auf diese Wertsteigerung aufmerksam geworden war ich durch das auf Instagram als Meme kursierende Foto eines US-amerikanischen Ehepaares vor dem Scheidungsgericht: Die beiden Geschiedenen knien vor einem riesigen Haufen Beanie Babies und dürfen sich, unter den Gerechtigkeit versprechenden Argusaugen des Scheidungsrichters (und mit der mentalen Unterstützung ihrer Anwälte hinter sich), jeweils ein Kuscheltier nach dem anderen aussuchen.
Eine solche Wertsteigerung hatten leider nur wenige meiner 20 Jahre alten Sticker erfahren. Mein Freund A. ließ sich trotzdem immer wieder auf einen Tauschhandel mit mir ein – aus Mitleid und weil ich alle Register meiner Verführungskünste zog. Das bemerkte meine Freundin C., seine Mutter, natürlich sofort und griff immer dann ein, wenn ich kurz davor war, mir durch Wimpernklimpern ein besonders schönes Exemplar zu erflirten. Ich protestierte: Verführung hat auch einen Tauschwert! Immerhin besteht sie, ebenso wie andere Waren, aus in ihr gespeicherter Arbeit.
A. mag besonders gerne »Stoffies« – die Aufkleber mit der weichen Oberfläche. Außer ihnen gibt es noch »Glitzies«, »Glasies«, »Filzies«, »Normalies« und »3D«. Sie alle können außerdem den Kategorien »echt« und »gefälscht« zugeordnet werden, was man anhand bestimmter Kriterien erkennen kann – A. ist darin Spezialist.
Die Idee der Fälschung (welche weniger Wert hat als ein Original) kommt vom Kunstmarkt. A. kennt sich mit Kunst gut aus und weiß deshalb, dass zum Beispiel »selbst gemachte Sticker« (ein Versuch, den ich einmal aus Verzweiflung in Vorbereitung auf eine Tausch-Session mit ihm unternommen hatte) als handgefertigtes Unikat einen symbolischen Wert haben. Dennoch interessiert er sich unter dem ökonomischen Aspekt weniger für jene Einzelstücke. Man muss ja auch den jeweiligen Marktwert bedenken und der ist für die massenproduzierten Sticker leider (aufgrund des meist weniger elaborierten Kunstverständnisses und Geschmackes der anderen Kinder) häufig höher. Auch weit gereiste Sticker aus Japan und New York sind auf dem Kreuzberger Grundschulmarkt nicht viel wert – weshalb A. sie mir großzügig gegen ein bisschen Wimpernklimpern eintauscht, sofern C. nicht aufpasst.
Spaß und Verantwortung: Die Herzkurve. Unsere Kolumnistin denkt über die eigenen Ängste nach
Ich habe gehört, dass der Kunstmarkt eine prophetische Qualität habe – Tendenzen des Aufstieges und Falls zeigten sich auf ihm schon Jahre bevor sie auf dem »richtigen« Markt auftauchten. Ich bin gespannt, wie es sich mit dieser scheinbaren Wechselwirkung auf dem Stickermarkt verhält. Ist der Wert der »Glitzies« zum Beispiel gleichzusetzen mit dem Diamantenkurs? Und »Normalies« stehen für das Bruttoinlandsprodukt? Sind die »Glasies« ein Orakel für die Tesla-Aktie? Und handelt es sich bei dem Wert der»3Ds« vielleicht um eine Vorhersage bezüglich der Entwicklung von Kryptowährungen?
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