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Machtdemonstration des Establishments
Eine Nachwahl im US-Bundesstaat Ohio als Machtkampf zwischen den Flügeln der US-Demokraten
Im US-Bundesstaat Ohio ist der alte Kampf zwischen Hillary Clinton und Bernie Sanders erneut ausgefochten worden. Es ist ein Stellvertreterkampf um die Richtung der Partei, auf beiden Seiten ist viel Geld im Spiel, es wird schmutzig gekämpft und auch Lobbyisten mischen mit: Die Nachwahl im 11. Kongresswahlbezirk im Staat ist zu einem Kräftemessen zwischen Progressiven und dem konzernnahen Establishment der US-Demokraten geworden und die Parteilinke hat es verloren. Mit rund 6 Prozentpunkten Rückstand unterlag die linke Favoritin und Sanders-Vertraute Nina Turner Mittwochnacht gegen die Demokraten-Landrätin Shontel Brown, die auch Vorsitzende der Partei vor Ort ist.
Mit der Berufung der Abgeordneten Marcia Fudge als neue Ministerin für Wohnungs- und Städtebau in das Kabinett von Joe Biden im März musste das Mandat für den 11. Wahlbezirk in Ohio rund um die relativ armen Rustbelt-Städte Cleveland und Akron nachbesetzt werden. Der Bezirk ist zu 53 Prozent afroamerikanisch, zu 37 Prozent weiß und hat 2020 mit rund 80 Prozent für Joe Biden gestimmt. Wer hier unter den Demokraten das Rennen macht, kann sich sicher sein, bei der Nachwahl im November in den Kongress einzuziehen – und dort für eine lange Zeit zu bleiben.
Favoritin Nina Turner hatte ihre Kandidatur bereits Mitte Dezembers angekündigt. Die ehemalige Wahlkampfleiterin des Parteilinken Sanders war die «Abteilung Attacke». Die Basis liebte es, wenn die 53-Jährige auf der Bühne rhetorisch Feuer spuckte oder auf CNN die Argumente konservativer Demokraten auseinandernahm. Innerhalb der ersten 24 Stunden nach Ankündigung ihrer Kandidatur trafen deswegen Graswurzelspenden aus dem ganzen Land in sechsstelliger Höhe ein. Im Turner-Wahlkampf stecke «viel linke Energie» auch aus dem ganzen Land, «wir erhalten sonst nicht so viel nationale Aufmerksamkeit, und wir freuen uns darüber», so Heather Hillenbrand, Ko-Vorsitzende der Akron-Ortsgruppe der Democratic Socialists of America (DSA) gegenüber «nd». Der lokale Ableger der Aktivistenorganisation unterstützte Turner.
Insgesamt hatte Turner, die Wahlkampfspenden von Lobbyisten ablehnt, rund 4,5 Millionen Dollar eingesammelt. Viele Beobachter gingen davon aus, dass Turner zum Sieg spazieren würde, denn als ehemalige Stadträtin aus Cleveland und ehemalige Senatorin im Oberhaus von Ohio ist sie zudem im Wahlkreis bereits bekannt. Tatsächlich organisierte Turner zunächst eine sehr traditionelle Kampagne, stellte weniger ihr nationales Star-Dasein als vielmehr ihre lokale Verankerung heraus, organisierte sich Unterstützungserklärungen auch von lokalen Parteigrößen. Weil sie die Stimmen der progressiven Parteibasis relativ sicher hat, bemühte sich Turner vor allem um die Parteiloyalisten, ältere, eher konservative Afroamerikaner*innen etwa, die Stimmen der Mitte. Sie wolle mit Joe Biden zusammenarbeiten, um seine Agenda voranzubringen, so Turner, die in ihren Videos sogar betonte, sie habe als Staatssenatorin bereits erfolgreich mit Republikanern zusammengearbeitet – bei der antirassistischen Reform des Justizwesens etwa.
Zwei Umfragen aus dem April sahen Turner bei 42 Prozent, mit 29 Prozent viele Unentschlossene und 10 bis 19 Prozent für Brown. Die gleichen Umfrageforscher sahen Brown dagegen bei erneuten Befragungen im Juli bei jeweils 36 Prozent, Turner dagegen unverändert und 14 bis 18 Prozent unentschlossene Wähler*innen. Brown hatte also auf den letzten Metern aufgeholt und konnte sich dann am Mittwoch durchsetzen. Was war geschehen? Das nationale Demokraten-Establishment hatte sich klar auf die Seite von Brown geschlagen, schickte Star-Unterstützung. Mitte Juni erklärte Ex-Außenministerin und Ex-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton ihre Unterstützung für Brown.
Ende Juni schloss ihr Jim Clyburn an. Ein solches «Endorsement» des dritthöchsten Demokraten im US-Kongress hatte Joe Biden in South Carolina bei der Präsidentschaftsvorwahl entscheidende Stimmen gesichert. Clinton und Clyburn sind beliebt bei moderateren und älteren afroamerikanischen Wähler*innen – und die sind zuverlässig beim Urnengang. Offiziell hält sich die scheidende schwarze Abgeordnete Marcia Fudge zurück. Doch ein Fernsehspot ihrer Mutter, in der diese Brown lobt, macht klar, wen sie gerne als Nachfolgerin hätte. Progressive Demokraten kritisieren deswegen die Unterstützung des Establishments und besonders durch ältere schwarze Abgeordnete des Congressional Black Caucus, der ebenfalls offiziell Brown unterstützte, als dynastische Politik.
Brown suggerierte im Vorwahlkampf immer wieder, Turner sei keine zuverlässige Demokratin und ein idealistischer Heißsporn. Brown dagegen inszeniert sich als loyale Parteisoldatin, schaffte es die Nachwahl in «ein Referendum über Unterstützung für die Biden-Administration zu machen. Doch könne Brown nicht genau sagen, was sie denn im Kongress erreichen wolle. Ihr Mangel an Substanz sei »der Knackpunkt dieser Vorwahl«, analysierte der der »Washington Post«-Journalist und Kongresswahl-Experte Weige vor dem Urnengang. Das nationale Establishment der Demokraten will genau das. Relativ unverblümt erklärte Top-Demokrat Jim Clyburn bei einem Wahlkampfauftritt für Brown, bei ihr müsse man sich keine Sorgen mache, dass sie gegen die Parteilinie stimmen werde.
Die gesamte Parteilinke der Demokraten dagegen hatte sich um Turner geschart, die Mitglieder der linken Parlamentariergruppe um Ocasio-Cortez sowie die Vereinigung progressiver Demokraten-Abgeordneter im Kongress etwa, auch einige Gewerkschaften vor Ort unterstützten sie. In vielen Wahlbezirken, die nicht Demokratenhochburgen seien, habe man nicht den Luxus, sich für eine linke Kandidatin zu entscheiden, die laut die Einführung der staatlichen Krankenversicherung für alle fordere oder für einen Green New Deal streite. »Schickt mir Verstärkung, schickt mir Nina«, so Ocasio-Cortez bei einem Auftritt zur Mobilisierung der progressiven Wähler*innen des Bezirks.
Wie bei anderen Nachwahlen war die Wahlbeteiligung niedrig, lag nur bei rund 16 Prozent im größten Teil des Bezirks in Cuyahoga County. Wer es besser schafft, seine Anhänger*innen zu mobilisieren, gewinnt. Gerade junge Demokrat*innen sind wenig zuverlässige Wähler*innen. Turners Kampagne klopfte deswegen an Tausende Haustüren, offenbar war es nicht genug. An rund 1000 Türen hätten allein die Mitstreiter*innen bei der DSA deswegen bisher geklopft, berichtet ihre Aktivistin Heather Hillenbrand. Die demokratischen Sozialisten organisieren sich, um auch unabhängig von Turner in Zukunft eigene Kandidaten auf lokale Posten bringen zu können. Am vergangenen Wochenende setzte sich auch Bernie Sanders persönlich mit mehreren Auftritten für seine politische Weggefährtin ein, mobilisierte seine Basis. »Ich bin kein Fan von Negativ-Wahlkampf, aber der Kontrast ist sehr klar in diesem Fall«, so Sanders angesichts des massiven Lobbyisten-Schmutzwahlkampfs gegen Turner.
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