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Ein Staatsstreich der anderen Art

Tunesiens Präsident hat für sein rabiates Vorgehen gegen Parlament und Regierung die Straße hinter sich

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Folgen des unblutigen Putsches in Tunesien sind kaum noch spürbar. Nur am Abend nach Beginn der Sperrstunde um 22 Uhr patrouillieren vereinzelt Armee- und Polizeijeeps durch die Straßen von Tunis. Die moderaten Islamisten der Ennahda haben ihre Proteste gegen die Maßnahmen von Präsident Kais Saied abgesagt. Saied hatte am »Tag der Republik«, dem 25. Juli, die Regierung und das Parlament ausgehebelt, in dem die Ennahda die stärkste Fraktion stellt.

Kein öffentliches Treffen mit mehr als drei Personen

Für die Ennahda ist nicht nur das Verbot öffentlicher Treffen von mehr als drei Menschen ein Problem. Es sind auch nur wenige bereit, sich für die Wiedereröffnung des Parlaments zu engagieren. Angesichts der weiterhin ungebrochenen Zustimmung für Kais Saied haben sich Ennahda-Parteichef und Parlamentspräsident Rahed Ghannouchi für Lobbyarbeit in Washington und europäischen Hauptstädten entschieden. Das im Exil während der Ben-Ali-Diktatur entstandene Netzwerk der ehemaligen Oppositionsbewegung versucht nun, westliche Diplomaten davon zu überzeugen, von Kais Saied ein Ende »seines Staatsstreiches« zu fordern.

In einem von der Ennahda verbreiteten Video warnte der 80-jährige Ghannouchi in englischer Sprache eindringlich vor baldigem Chaos wie in Libyen und 500 000 nach Italien fliehenden Tunesiern, sollte den Parlamentariern nicht bald die Rückkehr in das von der Armee abgeriegelte Parlamentsgebäude erlaubt werden. In Tunesien selbst schlägt Ghannouchi moderate Töne an. Er versicherte, auch zu Neuwahlen bereit zu sein, sollte dies bei Verhandlungen aller gesellschaftlichen Kräfte vereinbart werden.

In Medien, Cafés und Parks wird leidenschaftlich über die Ereignisse der letzten Wochen diskutiert, oft auch nach der coronabedingten Sperrstunde. Auch unter den vielen Anhängern der Machtergreifung von Saied fällt häufig das Wort Staatsstreich oder »Verfassungscoup«. Doch noch zu gut haben viele die wüsten Schlägereien, Beschimpfungen und die Untätigkeit der Parlamentarier trotz des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems vor Augen. In Tunis jemanden auf offener Straße zu finden, der eine Rückkehr des abgesetzten Parlaments möchte, ist dieser Tage schwer. Selbst innerhalb der Ennahda mehren sich Stimmen, die eine Rückkehr zum Status quo ante ablehnen. Deren Abgeordneter Imed Hamami sagte dem TV-Sender »9«, dass nun ein nationaler Dialog nötig sei, und kritisierte die Parteiführung heftig.

Politische Beobachter vermuten, dass Kais Saied seinen bereits mehrmals angekündigten nationalen Dialog ohne die politischen Parteien beginnen wird. Nach Gesprächen mit dem Arbeitgeberverband UTICA senkten, wie von Saied gefordert, viele Einzelhändler in dieser Woche die Preise für Grundnahrungsmittel. Die Gewerkschaft UGTT entwickelte zusammen mit Experten ein Reformpaket, mit dem die verkrusteten Strukturen in Wirtschaft und Verwaltung aufgebrochen werden sollen, und legte dies dem Präsidenten vor.
Im Studio des privaten Radiosenders Mosaiqe FM stellte sich der Rechtsprofessor Saied am Montag den Fragen der Hörer auf der Avenue du Bourguiba – dort, wo am 25. Juli Tausende seinen Schlag gegen Regierung und Parlament gefeiert hatten, machte er zuvor einen medienwirksamen Spaziergang.

Haythem El Mekki von Mosaique FM, einer der landesweit populärsten Moderatoren, bringt die Position vieler Tunesier auf den Punkt: »Ja es war ein Staatsstreich. Die Lage ist gefährlich und wir müssen wachsam unsere erkämpfte Demokratie schützen. Aber die seit zehn Jahren regierende Koalition von Gaunern, Dieben und Terroristen hat unsere Revolution gestohlen und es nicht besser verdient.«

Die spontanen Jubelfeiern nach der Verkündung Saieds vor einer Woche haben dazu geführt, dass nur wenige Tunesier an eine Eskalation der Lage glauben. Die Strände der Küstenstädte sind wieder voller Familien. Der Optimismus im Land liegt auch an dem vorsichtigen Vorgehen von Saied und den ihn umgebenden Armee- und Polizeigenerälen.

Kais Saied hält Kurs mit Rückendeckung der Straße

Der 67-jährige Staatsrechtler Saied lässt sich vorerst nicht beirren. Statt schnell einen Premierminister vorzustellen, erließ er ein Auslaufverbot von Segeljachten aus tunesischen Häfen, um die Flucht von per Haftbefehl Gesuchten zu verhindern.

Putschführer Saied ist zwar beliebt, aber unter kritischer Beobachtung der Zivilgesellschaft und Gewerkschaften steht er nichtsdestotrotz. UGTT-Chef Noureddine Taboubi forderte von Saied am Mittwoch, endlich einen neuen Premierminister vorzustellen. »Die neue Regierung sollte klein sein und von einem erfahrenen Chef angeführt werden. Wir können nicht 30 Tage auf die Ernennung warten«, so Taboubi im Staatssender Watania.

Saied ist derweil noch mit Entlassungen von Diplomaten und Ministern beschäftigt, am Dienstag musste unter anderem der Botschafter Tunesiens in Washington seinen Hut nehmen. Und das von der Zivilgesellschaft in den vergangenen Monaten immer wieder wegen der willkürlichen Verhaftung von Demonstranten kritisierte Innenministerium hat nun offenbar grünes Licht, vorliegende Haftbefehle umzusetzen.

Polizeibeamte suchten am Samstagnachmittag den Abgeordneten Mohamed Affes zu Hause auf, gegen den wegen der Unterstützung von Terrorverdächtigen ermittelt wird. Der Richter Bechir Akremi wurde für 40 Tage unter Hausarrest gestellt. Dem Ennahda-nahen Akremi wird vorgeworfen, Ermittlungsunterlagen zu den Morden an den beiden politischen Aktivisten Chokri Belaid und Mohamed Brahmi versteckt zu haben. Die Morde im Jahr 2013 hatten Tunesien an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Spätestens mit dem Ablauf der von Saied gesetzten 30-Tage-Frist könnte es wie damals zu Konfrontationen vor dem Parlamentsgebäude in Bardo kommen.

Die Putsch-Allianz von Bürgern, Gewerkschaftern und einem häufig als Sonderling belächelten Präsidenten zeigt, dass sich die Situation in Tunesien wie schon 2011 sehr von der in anderen Ländern der Region unterscheidet. Wie schnell die Lage aber auch für kritische Stimmen gefährlich werden könnte, zeigt die Verhaftung des Aktivisten und Abgeordneten Yassine Ayari. Nachdem Saied die Immunität des Abgeordneten aufgehoben hatte, wurde der parteiunabhängige Ayari wegen Beleidigung der Armee zu zwei Monaten Haft verurteilt. Menschenrechtsaktivisten sehen in diesem Fall aber vor allem den Beweis für eine dringend nötige Reform der Justiz und der Sicherheitsdienste.

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