- Kommentare
- Kinderwunsch
Spätbürgerliche Dekadenz
Das Drama des EIGENEN Kindes
Wer sich Anfang des 21. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen bewegt, merkt es bald: Eines der drängendsten Probleme unserer Zeit ist »der Kinderwunsch«, nur noch übertroffen vom »unerfüllten Kinderwunsch«. Die Lösung dieses Problems bedeutet für die Betroffenen naturgemäß derartige körperliche, finanzielle und emotionale Belastungen, dass die - zum Glück vorhandenen - Ressourcen gebündelt werden müssen. Ganz behutsam muss hier vorgegangen werden, Rückzug ist gefragt, schließlich geht es um das gelingende Leben!
Zur Illustration ein fiktives Beispiel, sagen wir mal aus so einem Umfeld wie dem der Autorin: Verbeamtete linke Lehrer*innen, denen die Aufwertung der Berliner Innenstadtbezirke nicht schnell genug geht, ziehen nach Brandenburg, damit sie dort - ohne von »zu viel Elend« in Neukölln irritiert zu werden - in Ruhe 20 000 Euro für die Empfängnis des zweiten EIGENEN Kindes ausgeben können. Denn dass es das EIGENE Kind sein muss und nicht etwa ein elendiges Neuköllner Pflegekind, am Ende noch »mit Migrationshintergrund«, ist klar. Warum klar? Na, die Gründe für den Kinderwunsch sind eben im knallharten Sinne persönlich: Fortführung der Blutslinie; Sicherung des Familienvermögens; Abhaken eines Punktes auf der Checkliste der »Meilensteine« (ganz individuell gesetzt, versteht sich); endgültige Lösung der Sinnfrage auf eigene Faust, ohne nervige Angewiesenheit auf gesellschaftliche Veränderung.
Geradezu politisch, mindestens aber altruistisch agieren die »Wunscheltern« allerdings in folgendem Punkt: Sie leisten einen wichtigen Beitrag gegen den Rückgang der Weltbevölkerung, der - vollkommen kontraintuitiv, aber wissenschaftlich antizipiert - ab dem Jahr 2100 bevorsteht. Um nicht in reaktionäres Fahrwasser zu geraten, soll an dieser Stelle betont werden, dass es selbstverständlich zuvörderst die kapitalistische Produktionsweise ist, die mit dem Konstrukt »Überbevölkerung« ihre Unfähigkeit zur Versorgung der Menschheit vertuscht, indem sie die Unvernunft der Profitwirtschaft zur Naturgegebenheit erklärt. Auch linksliberale Medien denken die Bevölkerungsabnahme nur in Kategorien des Nationalstaates und dessen Form der Reichtumsverteilung. Um hier jegliches Unglück (vermeintlich) abzuwenden, etwa leere Rentenkassen oder vollends unprofitable Pflegeheime, ist ganzer Einsatz verlangt. Zumal von jenen Leistungsträger*innen, deren Kinder auch staatlicherseits sehr gern gesehen sind.
In dem Sinne abschließend noch eine tolle Nachricht! Bisher waren bekanntlich ganz überwiegend Frauen für die Nachkommenschaft verantwortlich - und zwar nicht nur für die bereits vorhandenen Kinder, sondern auch für das Ausbleiben des »eigenen« Nachwuchses. Diese düsteren Zeiten sind offenbar vorbei, zumindest in den urbanen Zentren der sogenannten westlichen Welt. Denn hier hat sich mittlerweile die revolutionäre Erkenntnis durchgesetzt, dass auch Männer unfruchtbar sein können. Das wird nun sogar auf dem 73. Urologen-Kongress im September 2021 diskutiert.
Die Schuldzuweisung, wenn es mit dem »Kinderwunsch« nicht klappen will, kann also in Zukunft innerhalb jeder einzelnen Partnerschaft gerechter vonstatten gehen. Ein großer Fortschritt für die Frauen - zumal für jene, die nach mehreren Runden energie- und geldraubender In-vitro-Fertilisation noch die Möglichkeit haben, eine andere Person mit Gebärmutter für die Herstellung des EIGENEN Kindes in Dienst zu nehmen. Dass die sogenannte Leihmutterschaft in Deutschland derzeit unter Strafe steht, kann die festentschlossenen Besserverdienenden nicht von ihrer Wunscherfüllung abhalten: Allein im Jahr 2020 haben 15 000 deutsche Paare den 24/7-Ganzkörperjob von ukrainischen Frauen erledigen lassen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.