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Von der Penetranz des Mutterschaftszwangs

Was bedeutet es konkret, wenn Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert sind? Das zeigt »Delikt Abtreibung« – mit Erkenntnisgewinn für die Gegenwart

Feministischer Kampftag – Von der Penetranz des Mutterschaftszwangs

Am 11. November 1947 traf die 24-jährige Sheli V. gemeinsam mit ihrem Ehemann Itzig, ihrer zweijährigen Tochter Lydia und ihrer Mutter Sofia in Wien ein. Die Familie kam aus dem rumänischen Iași, das für ein antisemitisches Massaker berüchtigt ist.» Die Holocaust-Überlebende ist eine der vielen Frauen, von denen Sylvia Köchl in ihrem Buch «Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche» erzählt. Weiterhin ist in der Fallgeschichte zu erfahren: Kurz nach ihrer Ankunft in Wien, auf der Durchreise nach Israel/Palästina, bemerkt Sheli V., dass sie schwanger ist. Sie sieht sich in keiner Lage dazu, ein weiteres Kind auszutragen. In Ermangelung anderer Möglichkeiten unterzieht sie sich – dem Ratschlag einer Zimmergenossin im Lager für Displaced Persons folgend – für eine übliche Form der Selbstabtreibung: «Ich kaufte mir … in einer Apotheke Hypermangan-Kristalle und führte sie, abends vor dem Schlafengehen, mit dem Finger so tief es ging in die Scheide ein.» Am nächsten Morgen wird sie auf Betreiben ihres Mannes ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie allerdings alles andere als sicher aufgehoben ist: «Das Spital erstattete eine ›Verletzungsanzeige‹, in der von einer ›sehr stark ausgebluteten Patientin‹, einem tiefen Riss in der Gebärmutter und Geweberesten nach einem Abortus die Rede war.» Offenbar hatte Sheli V. zusätzlich zur Hypermangan-Verätzung auch noch einen spitzen Gegenstand eingeführt und damit ihre Gebärmutter verletzt. Zu ihrem großen Glück konnte sie ins neu gegründete Israel ausreisen und damit der Strafverfolgung entgehen – wie zuvor schon ihrer Ermordung durch die Nazis.

Fokus auf Armutsbetroffenheit

«Delikt Abtreibung» kombiniert Gerichtsakten aus der Zeit, als Abtreibungen in Österreich noch kriminalisiert waren – bekanntlich noch nicht lange her, nämlich 1974 – mit konkreten Fallgeschichten der Betroffenen. Auch der Gegenwartsbezug wird hergestellt, etwa durch die Chronologie «Während ich an diesem Buch arbeite», in der neben vielen Verschärfungen der Lage auch – und das ist wichtig! – die erfolgreichen feministischen Kämpfe genannt werden. Ebenfalls einleitend formuliert Köchl das zentrale Anliegen des Buches: Sie interessiere «in erster Linie, wie arme Menschen in der Zeit der Illegalität von Abtreibungen, während zugleich gute Verhütungsmittel noch fehlten (oder für sie nicht leistbar waren), mit ungewollten Schwangerschaften umgingen. Außerdem wollte ich wissen, wer diese Abtreiberinnen waren, die auf ihren sprichwörtlichen Küchentischen Eingriffe vornahmen – und wie sie das überhaupt machten.»

Vor dem Hintergrund dieser ökonomiekritischen Fragestellung wird beim Lesen des Buches schnell deutlich: Während die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen alle Frauen meint, trifft sie von Armut betroffenen Frauen mit besonderer Härte. Während bürgerliche Frauen in der Regel Ärzte aufsuchen konnten und insgesamt über Ressourcen verfügten, den Eingriff sicher zu überstehen, waren für arme Frauen oft «sogar die Tarife von Hebammen zu hoch und sie mussten auf Angebote medizinischer Laiinnen zurückgreifen oder (sinnlose bis gefährliche) Selbstversuche unternehmen.» Die Gefährlichkeit des Eingriffs stieg proportional zu den sinkenden Kosten – was natürlich kaum eine schwangere Person ohne finanzielle Mittel davon abhielt, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen.

Mehr als 80 Prozent der deutschen Bevölkerung befürworten die Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen, unter den Frauen sind es nahezu 90 Prozent.

Im Umgang mit der Causa Schwangerschaftssabbruch, wie Köchl ihn darlegt, zeigt sich die bürgerliche Gesellschaft also einmal mehr als Klassenherrschaft. Dabei ist es nur folgerichtig, dass die Belege dafür aus dem Bereich der Justiz kommen: «Die Sprache der Akten», so der treffende Titel des ersten Kapitels, ist in dieser Hinsicht klar und deutlich. Zwar ist die Strafverfolgung, wie Köchl immer wieder herausstellt, in der untersuchten Zeit eine absolute Männderdomäne, von den männlichen «Armenanwälten» bis zu den Richtern und Polizisten. Recht und Justiz sind zentrale Säulen staatlicher Repression und produzieren Herrschaftswissen par excellence. Dennoch dokumentieren die Akten von Strafprozessen Fakten über die Betroffenen, die ansonsten nicht unbedingt festgehalten sind; dies gilt fast paradoxerweise gerade für marginalisierte und arme Menschen: «Gerichtsakten eignen sich besonders gut als Quelle für Forschungen der Sozial- und Frauengeschichte, die sich mit dem Alltag der »kleinen Frau« befassen», zitiert Köckl die Schweizer Historikerin Annamarie Ryter. Hier kann angenommen werden: Das ist noch heute so.

Die Lüge von der «Polarisierung»

Auch von Relevanz für unsere Gegenwart: Köckls Untersuchungszeitraum schließt die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich ein und dokumentiert so den faschistischen Umgang mit der weiblichen Reproduktionsfähigkeit. Wenig überraschend erweist sich dieser als besonders grausam, die sozialchauvinistische Stigmatisierung war drastisch – Aufforderung zu Denunziationen, Zuschreibung der «Asozialität» und so weiter – und die Strafen für alle Beteiligten drakonisch. In «einem Abtreibungsverfahren des SG Wien aus dem Jahr 1944» drohte der Beschuldigten «sogar die Todesstrafe». Während die NS-Prägung der Abtreibungsgesetze fortbesteht (Stichwort Fristenlösung), erkämpfte die Zweite Frauenbewegung eine soziale und juristische Liberalisierung; zur Mitte der 1970er Jahre wurde der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in Österreich (ebenso wie in der BRD) wesentlich erweitert.

Aber längst sind wieder patriarchal-autoritäre Zeiten hereingebrochen, und das geht nicht vor sich ohne harten Zugriff auf die reproduktive Selbstbestimmung der Frauen. Die heutige Rechte, im Bundestag etwa personifiziert durch Friedrich Merz (CDU), blockiert eine Entkriminalisierung mit der Behauptung, das Thema Abtreibung «polarisiere» die Wähler*innen. Dies ist eine glatte Lüge. In Wirklichkeit dürfte diese eine der wenigen Fragen sein, in der quasi gesellschaftliche Übereinstimmung herrscht. Eine repräsentative Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFJ) zum Thema Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 2024 belegt: Mehr als 80 Prozent der deutschen Bevölkerung befürworten die Legalität von Schwangerschaftsabbrüchen, unter den Frauen sind es nahezu 90 Prozent. Über diese Diskrepanz empört zu sein, wäre borniert – schließlich ist es der Clou der repräsentativen Demokratie, dass die wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung keinen Einfluss auf die parlamentarische Politik haben. Hier lässt sich daran allerdings ablesen, dass der Staat die reproduktive Selbstbestimmung der Frau als genuine Bedrohung betrachtet – und zwar nicht nur die Rechte, sondern auch SPD, FDP und Grüne, die allesamt seit Jahrzehnten an der «Fristenlösung» festhalten.

Angesichts der Wichtigkeit, den der Zugriff auf die weibliche Reproduktionsfähigkeit für den Staat hat, nimmt folgendes – positiv überraschendes – Ergebnis der BMBFJ-Studie fast schon revolutionären Charakter an: «Rund 75 Prozent finden zudem, dass Abbrüche künftig eher nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden sollten.» Und tatsächlich sollten sich alle klarmachen, dass das Thema Abtreibung letztlich die gesamte Bevölkerung etwas angeht. Zwar muss für eine patriarchale Ordnung festgehalten werden, dass Cis-Männer erst mal am wenigsten direkten Eingriff in ihre persönliche Freiheit zu erwarten haben. Aber Köchls Fallgeschichten zeigen, dass auch sie im Zweifelsfall betroffen sind – etwa, wenn aufgrund des Abtreibungsverbotes noch ein weiteres Kind zu versorgen ist, oder wenn die Partnerin aufgrund eines falsch ausgeführten Schwangerschaftsabbruches erkrankt oder stirbt.

Faschistische Reproduktionspolitik

Die größten Befürworter repressiverer Abtreibungsgesetze sind laut dem BMBFJ übrigens die Superreichen – eine statistische Größe, in der sich die Geburtenkontrolle noch einmal deutlich als besonderes Herrschaftsinteresse zeigen mag. Und auch die AfD zeigt sich bei kaum einem Thema so deutlich als die ultrapatriarchale Partei, die sie in Wirklichkeit ist, was durch die Personalie Alice Weidel oft vernebelt wird. Das «Deutsche Ärzteblatt» warnt im November 2024: «Die Alternative für Deutschland will das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche massiv einschränken. ... Demnach sollen Schwangerschaftsabbrüche nur noch ›bei kriminologischer oder medizinischer Indikation‹ erlaubt sein, heißt es dort – also etwa nach Vergewaltigungen oder in Fällen, in denen die Gesundheit der Mutter gefährdet ist. Stattdessen wolle die AfD eine ›Willkommenskultur für Kinder‹ etablieren.»

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All dies entstammt dem Playbook der religiösen Rechten, die in den USA – als gewichtiger Herrschaftsblock innerhalb der Trump-Administration – längst die Herrschaft übernommen hat. Wie sich dies in Deutschland entfalten würde, wo die Evangelikalen keine annähernd mächtige gesellschaftliche Fraktion bilden, bleibt abzuwarten. In den USA jedenfalls wurde 2024 ein qualitativer Sprung in der vollständigen Delegitimierung von Schwangerschaftsabbrüchen erreicht: Während im Österreich des 20. Jahrhunderts, wie aus Köchls Akten hervorgeht, auf allen Seiten von einer «Leibesfrucht» die Rede ist, wird dem Embryo in einigen US-Bundesstaaten bereits ein eigenständiger Personenstatus zugestanden («fetal personhood»). Dies ist ein psychologisch manipulativer Vorgang, der außerdem die vollkommene Entrechtung der schwangeren Person erlaubt. Ist der staatliche Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen so etwas wie ein Wasserstandsanzeiger für den Heraufzug des Faschismus? Bange muss ich schreiben: Wir werden sehen.

Sylvia Köchl: «Delikt Abtreibung. Frauenarmut, ungewollte Schwangerschaften und illegale Abbrüche». Mandelbaum-Verlag, br., 254 S., 22 €.

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