Raus aus der Schablone

In der Oral History «Future Sounds» erzählen Protagonisten des Krautrock ihre Geschichte und die des Genres

  • Jens Buchholz
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass die neuen Bands aus Deutschland keine angloamerikanischen Wurzeln hatten, war uns nicht nur bewusst, sondern auch wichtig«, erklärt der Musikmanager Bernd Dopp in Christoph Dallachs Buch »Future Sounds«. Er bringt damit einen musikalischen Grundsatz der Krautrockbands in den Siebzigerjahren auf den Punkt.

Aufgewachsen sind die späteren Krautrocker mit der Beat-Musik der Sechziger und den politischen Umbrüchen von 1968. »Der ganze Lifestyle war anziehend, diese Beatmusik versprach wirklich ein anderes Leben«, erzählt Jürgen Dollase von der Krautrockband Wallenstein. Und der berühmte Gitarrenlehrbuchverfasser Peter Bursch ergänzt: »Wir wollten nicht so sein, wie unsere Eltern.«

Was die Krautrocker einte, war das Gefühl der Zweitklassigkeit deutscher Rockmusik. Bestes Beispiel waren Beatbands wie die Lords oder die Rattles, die ziemlich fantasielos britische und amerikanische Vorbilder nachahmten. Die Krautrocker wollten sich vom schablonenhaften Nachahmen befreien, ohne den freien Geist der Rockmusik aufzugeben. Anfang der Siebziger begannen die Krautrocker ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen. In Deutschland stießen die neuen Bands auf wenig Resonanz. Aber mit Tangerine Dream gewann der Krautrock vor allem in Großbritannien eine treue Anhängerschaft und wurde enorm einflussreich.

Der renommierte Popjournalist Christoph Dallach ist bekannt für seine großartigen Interviews mit Popstars. Wer, wenn nicht er, ist also der richtige Autor für eine umfassende Oral History des Krautrock. Für das Buch führte er mit fast siebzig Gesprächspartnern Interviews. Er sprach mit Krautrockgrößen wie Holger Czukay von der Band Can, dem Gitarristen Michael Rother von NEU!, mit dem ehemaligen Kraftwerkmitglied Karl Bartos und natürlich mit Peter Baumann von Tangerine Dream. Und auch mit dem Oberpunker Iggy Pop, dem Regisseur Wim Wenders und Modfather Paul Weller, die davon erzählen, wie sie von Krautrock beeinflusst wurden. Natürlich sind auch ein paar frühe Freejazzer wie Peter Brötzmann dabei.

Dallach teilt sein Buch in die Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre ein. »Krautrock« ist ein typischer Nachkriegsbegriff. »Krauts« nannten die amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg ihre deutschen Gegner. Abgeleitet wurde das Wort von der damaligen deutschen Nationalspeise, dem Sauerkraut. Die britische Musikpresse erfand den Begriff, und nicht jeder Krautrocker war mit dieser Genrebenennung glücklich.

In »Die Fünfziger« geht es um die Kindheit und Jugend von Dallachs Gesprächspartnern in der Nazizeit und in der jungen Bundesrepublik. Vom Krieg gezeichnete Eltern und Nazilehrer, die vom Krieg schwärmen. Es folgen »Die Sechziger«. Im Kapitel »1968« geht es um den geistigen Aufbruch der Kriegskindergeneration. Die Kapitel »Haare«, »Drogen« und »WGs« handeln davon, wie nach 1968 versucht wurde, aus dem Nazimuff auszubrechen. Mit »Die Siebziger« steigt Dallach in den Aufstieg und Fall des Krautrocks ein, indem er Bandbiografien maßgeblicher Gruppen collagiert. Aber auch die Rolle von Richard Bransons Plattenfirma Virgin wird beleuchtet.

Durch Zitate des Saxofonisten Peter Brötzmann macht Dallach die Wurzeln des Krautrock im Freejazz sichtbar. Großen Einfluss hatten auch die Werke des experimentellen Komponisten Karl Heinz Stockhausen auf die Musiker. Das zeigt Dallach anhand des Electronic Beat Studios des Schweizers Thomas Kessler in Berlin, in dem Bands wie Ash Rah Tempel mit den elektronischen Klängen eines EMS-Synthesizers experimentierten. Bis weit in die Mitte der Siebziger waren die Krautrocker mit ihrer Musik die Avantgarde des Pop. »Mit Beginn der Achtziger war alles vorbei, da kamen Punk und die Neue Deutsche Welle und keiner wollte mehr was von unserer Musik wissen«, erzählt der Guru Guru-Schlagzeuger Mani Neumeier im Kapitel »Ende«. Und im Kapitel »Für immer« erklären Paul Weller, Daniel Miller oder Julien Cope, wie sehr sie Krautrock bis heute beeinflusst.

Die Oral History ist in der Popmusik-Literatur zu einem eigenen Genre geworden. Und es lohnt sich ein genauerer Blick darauf, was Oral History eigentlich ist. Der Klassiker, der alles lostrat, ist Legs McNeils 1996 erschienenes Buch »Please Kill me! – The Uncensored Oral History of Punk«. McNeil führte Interviews mit vielen Punk-Größen, wie den Ramones oder Iggy Pop. Aber er zeichnete nicht einfach Gespräche auf und transkribierte sie, sondern er zerlegte seine Interviews und kompilierte die einzelnen Antworten neu. Er sortierte die Aussagen chronologisch und thematisch und collagierte so ein multiperspektivisches Erzählpanorama. Die Aussagen der Befragten werden nicht kommentiert, sondern kommentieren sich durch ihre neue Nachbarschaft gegenseitig. Auch der Kontext wird nur aus den Aussagen der Befragten konstruiert. Keine Objektivität, sondern Intersubjektivität. Keine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten.

Mit »Verschwende deine Jugend« übernahm Oliver Teipel im Jahr 2001 erfolgreich dieses Konzept, um die Geschichte der deutschen Punk- und New-Wave-Szene zwischen 1977 und 1983 zu erzählen. Er bezeichnete das Aussage-Kompilations-Verfahren treffend als »Doku-Roman«. Der Begriff »Roman« hebt hervor, dass das kompilatorische Eingreifen des Autors eigentlich eher ein Kunstwerk als eine Dokumentation erschafft. Aber er betont auch den fiktionalen Anteil, der in Erinnerungen immer enthalten ist.

Denn aus dem Gedächtnis ruft man keine Tatsachen ab. Man ruft Erinnerungsgeschichten ab. Diese Geschichten sind kommunikativ konstruiert. Sie vermischen sich mit Fotos, Erzählungen, Filmen, Serien oder Musik. »Unser Gedächtnis hat nicht nur eine soziale, sondern auch eine kulturelle Basis«, beschreibt der Kulturwissenschaftler Jan Assmann den Zusammenhang zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Das Gedächtnis stiftet in einem immer dynamisch bleibenden Prozess Identität, indem es Lebensgeschichten in eine größere Erzählung einbettet.

Autoren wie McNeil, Teipel oder Dallach betätigen sich als Archivare im großen Aussagenarchiv der Popgeschichte. Durch ihre Oral-History-Kompilationen versuchen sie die Frage zu beantworten, mit welchem roten Faden wir diese Geschichte(n) mit uns selbst und unserer Gegenwart verbinden können. Durch die Verbindung der Interviews erzeugen sie neue Zusammenhänge und imaginäre Gespräche und damit eine neue Erinnerungskultur. Aber wie jede Erinnerung bleibt diese Erzählung eine Fiktion.

Christoph Dallach: »Future Sounds«. Suhrkamp, br., 511 S., 18 €.

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