Ein legitimer Streik

Bei der Bahnkundschaft hält sich die Aufregung über den Arbeitskampf der GDL deutlich in Grenzen

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 7 Min.

Mittwochmorgen 8.30 Uhr, Bahnhof Berlin-Ostkreuz. Ein Verkehrsknotenpunkt in der Rushhour. Hier kreuzt sich die Berliner Ringbahn mit der S-Bahn-Stammstrecke, auch Regionalzüge halten am Ostkreuz. Auf einer Anzeige informiert die S-Bahn, dass die Linien S3, S5 und S7 wegen des Streiks der Lokführergewerkschaft GDL derzeit nur im 20-Minuten-Takt fahren. Ansonsten ist vom Streik bei der Deutschen Bahn dort nicht viel zu spüren. Der Bahnsteig ist weder auffallend leerer noch voller als sonst.

Auch die Fahrgäste zeigen sich eher unbeeindruckt. Einerseits sei es fragwürdig, dass der Streik im Berufsverkehr stattfinden müsse, ärgert sich Torsten, 42, der im Vertrieb eines Autohändlers arbeitet. Außerdem sei der Streik zu kurzfristig angekündigt worden, man habe sich nicht auf die Arbeitsniederlegung einstellen können. Aber andererseits findet er es auch »legitim«, dass die Lokführer für ihre Rechte kämpfen. »Das ist jetzt nicht ideal«, sagt Tom, 30, der aus Neuseeland zum Arbeiten nach Deutschland gekommen ist, über den Streik. Jetzt hoffe er, dass er noch seinen Flieger nach Portugal bekommt. »Aber es ist okay, dass sie streiken. Das ist ihr gutes Recht.«

In den sozialen Medien ist die Stimmung gereizter. Neben Solidarität wird der GDL auch viel Hass entgegengeschleudert. »Absolut unverantwortlich, zu Corona-Zeiten zu streiken und damit die Bürger zu zwingen, den Sicherheitsabstand, insbesondere auf Langstreckenverbindungen, zu unterschreiten«, echauffiert sich eine FDP-Bundestagskandidatin auf Twitter. »Danke #GDL. #gdl-streik heißt für mich: Morgen 1 1/2 Stunden früher aufstehen und später nach Hause kommen und 70 KM Rad fahren. Wer politisch eine #Verkehrswende will, muss in Zukunft eine Grundversorgung der Infrastruktur auch bei Streik (wie in Frankreich oder Italien) sichern«, motzt ein anderer User des sozialen Netzwerks.

Seit Dienstag 19 Uhr befinden sich die Mitglieder der GDL im Streik, nachdem am Vormittag das Ergebnis ihrer Urabstimmung veröffentlicht wurde. Demnach stimmten 95 Prozent für einen Arbeitskampf. Den begannen sie zunächst im Güterverkehr. Seit Mittwochnacht 2 Uhr bestreikten sie auch den Personenverkehr. 48 Stunden soll die Arbeitsniederlegung andauern. Es wird im ganzen Bundesgebiet gestreikt, egal ob Fern-, Regional- oder Nahverkehr. Auch in der Instandhaltung, der Netzinfrastruktur und Teilen der Verwaltung kündigte die GDL Arbeitskampfaktionen an. So stellt die Gewerkschaft ihre Forderungen erstmals nicht nur für ihre Lokführer, sondern auch für Mitglieder aus anderen Berufsgruppen wie Zugbegleiter und Bordgastronomen.

Ob die Gewerkschaft notfalls zu einem weiteren Ausstand aufruft, ließ GDL-Chef Claus Weselsky am Mittwochmorgen offen. »Das entscheiden wir nächste Woche«, sagte er im ZDF-»Morgenmagazin«.Die GDL fordert, angelehnt an den Tarifabschluss im öffentlichen Dienst, ein Entgeltplus rückwirkend zum 1. April 2021 um 1,4 Prozent, zum 1. April 2022 soll es noch mal 1,8 Prozent geben und obendrauf für dieses Jahr eine Corona-Prämie von 600 Euro. Auch wehrt sich die GDL dagegen, dass bei der Altersvorsorge gekürzt werden soll.

Das Management der Deutschen Bahn lehnt die Forderungen der GDL bisher ab. Es beharrt auf einer Nullrunde für dieses Jahr. Zum Jahreswechsel soll es 1,5 Prozent mehr Gehalt geben, zum 1. März 2023 dann 1,7 Prozent. Insgesamt möchte die Konzernspitze den Tarifvertrag bis Ende Juni 2024 laufen lassen. Den jetzigen Streik bezeichnete sie am Dienstag als »unnötige Eskalation auf dem Rücken der Bahnkunden«, die Bahn kündigte Ersatzfahrpläne und das Ziel an, im Fernverkehr »auf ausgewählten Hauptachsen ein zweistündliches Angebot zuverlässig aufrechtzuerhalten«.

Am Mittwochmorgen zeigte sich der Bahnvorstand dann schon kompromissbereiter. »Wir liegen zugegebenermaßen in der Laufzeit auseinander, auch bei der Corona-Prämie. Aber das sind ureigenste Dinge, die am Verhandlungstisch besprochen werden«, sagte Personalvorstand Martin Seiler ebenfalls im ZDF-»Morgenmagazin«. Es sei Thema von Tarifverhandlungen, das auszuloten und zu Kompromissen zu kommen.

Zu der zur Schau gestellten Kompromissbereitschaft bei der Bahn dürfte beigetragen haben, dass der Streik offenbar seine Wirkung nicht verfehlt. »Zugverkehr stark beeinträchtigt«, vermeldete der Konzern am Mittwochmorgen. Im Fernverkehr fuhren bundesweit nur 25 Prozent aller Züge. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft errechnete, dass sich der Schaden für Unternehmen, die auf den Güterverkehr durch die Deutsche Bahn angewiesen sind, auf bis zu 100 Millionen Euro pro Tag belaufen könnte. »Spüren wird das vor allem die Chemieindustrie, da sie nicht nur große Mengen transportiert, sondern teilweise per Gesetz verpflichtet ist, die Schiene zu nutzen«, schreibt das Institut.

Zwei S-Bahn-Stationen vom Berliner Ostkreuz entfernt ist die Stimmung gut. In einem Café im Erdgeschoss eines Plattenbaus unweit des Ostbahnhofs trifft sich die GDL. 20, 30 Gewerkschafter stehen in Grüppchen davor. »Ich bin seit 6.30 Uhr im Streik«, sagt ein Kollege, »ich in drei Minuten«, scherzt ein anderer. Man hofft, dass man die Deutsche Bahn mit dem Streik »wachgerüttelt« hat.

Drinnen organisiert die Streikleitung das Geschehen. Telefonnummern werden gesammelt, damit man die Kollegen notfalls schnell erreichen kann. Es geht auch um praktische Fragen: Was ist, wenn die nächste Schicht noch während des Streiks beginnt, man aber nach Streikende an einem Ort weit außerhalb Berlins sein soll? Wie kommt man dahin? Bei wem soll man sich deswegen melden?

In einer Ecke sitzt die Streikleitung vom Berliner Fernverkehr. Kaffee, Cola und etwas Kuchen stehen auf dem Tisch. »Die Leute sind wirklich streikbereit. Es läuft ab, wie es nun mal bei einem Streik abläuft«, freut man sich darüber, wie der Arbeitskampf bisher angelaufen ist. Dass die Bahnkunden jetzt auf andere Verkehrsmittel umsteigen oder Verspätungen in Kauf nehmen müssen, ist laut den GDL-Aktiven die Schuld des Bahnmanagements. Das derzeitige Angebot sei »deutlich schlechter« als das, was in der gescheiterten Schlichtung im vergangenen November auf dem Tisch lag. Damals schlug der als Schlichter eingesetzte ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg, Matthias Platzeck (SPD), Entgelterhöhungen von 1,5 Prozent bei einer Laufzeit von 24 Monaten sowie eine steuerfreie Einmalzahlung von 800 beziehungsweise 600 Euro für höhere Lohngruppen vor. Die GDL lehnte jedoch ab.

Doch bei den Auseinandersetzungen mit der Deutschen Bahn geht es nicht allein um Tarifforderungen. Es geht auch um die Frage, welche Gewerkschaft das Sagen im Konzern hat. Da steht die GDL in Konkurrenz zur DGB-Gewerkschaft EVG. Mit 184 000 Mitgliedern ist die EVG weitaus größer als die GDL mit 37 000 Mitgliedern. Letztere gibt sich dafür kämpferischer. Während die EVG bereits im vergangenen September relativ geräuschlos einen Sanierungstarifvertrag mit der Deutschen Bahn abschloss, bläst die GDL nun zum Streik und hofft, mit ihrem konfrontativen Kurs neue Mitglieder zu gewinnen. 3000 sollen es eigenen Angaben zufolge in diesem Jahr schon sein.

Bei der GDL wirft man der EVG einen Kuschelkurs mit dem Konzern vor. Dass EVG-Chef Klaus-Dieter Hommel im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn sitzt, spreche Bände, schimpft ein Aktiver der GDL. Bei der EVG hingegen wirft man der GDL vor, den Konzern spalten zu wollen. »Diese GDL kämpft um ihr Überleben und nimmt dabei den Verlust von Arbeitsplätzen und die Verschlechterung von Beschäftigungsbedingungen in Kauf«, sagte Hommel am Dienstag.

Hinzu kommt, dass GDL-Chef Claus Weselsky als streitbar und nicht ganz unumstritten gilt. Manch ein Linker wirft dem CDU-Mitglied vor, dass er AfD-Mitglieder in seiner Gewerkschaft nicht rausschmeißen will.

Unter Kollegen will man indes vom Streit zwischen den Gewerkschaften wenig wissen. »So wie es in den Medien dargestellt wird, ist es nicht. Im Alltag wird ein kollegialer Umgang gepflegt«, heißt es von den GDL-Aktiven auf die Fragen zu ihrem Verhältnis zu den EVG-Kollegen.

Ähnlich unaufgeregt ist auch die Reaktion der Menschen auf den Bahnsteigen auf den Streik. »Immerhin findet er noch in der ersten Schulwoche statt«, sagt die Lehrerin Julia, 36, die am Berliner Ostkreuz auf die Ringbahn Richtung Storkower Straße wartet. Mitten im Schuljahr wäre das mit den Schülern schwieriger. Sie selbst habe kein Problem mit dem Arbeitsweg, auch wenn sie aus Friedrichshagen am Rand von Berlin komme. Sie habe sich auf die Ausfälle bei der S-Bahn vorbereitet, erzählt sie und fügt hinzu: »Der Streik ist ein legitimes Mittel.«

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