Realitätsfremde Wohnkosten

Viele Hartz-IV-Beziehende müssen von ihrer Grundsicherung Geld für die Miete abzwacken

In Deutschland wird mehr als jedem sechsten Haushalt in Hartz IV nur ein Teil der Wohnkosten durch das Jobcenter erstattet. In manchen Gemeinden ist sogar jeder zweite betroffen. Im Jahr 2020 mussten Betroffene im Schnitt 87 Euro im Monat von ihrem Regelsatz auf die Miete draufzahlen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken hervor.

Besonders hart betroffen sind demnach Familien mit Kindern sowie Alleinerziehende. In 159.000 Haushalten mit Kindern haben 2020 die tatsächlichen Wohnkosten die anerkannten Kosten überschritten. Haushalte mit Kindern mussten im Schnitt 101 Euro von ihrem Regelsatz für die Miete zahlen, bei den betroffenen Alleinerziehenden waren es durchschnittlich 96 Euro.

Wer in Deutschland Hartz IV bezieht, erhält zusätzlich zum Regelsatz auch die Heiz- und Mietkosten vom Jobcenter erstattet. Diese werden jedoch nur dann in voller Höhe übernommen, wenn der Wohnraum und die Höhe der Miete »angemessen« sind. Was »angemessen« ist, kann in kommunalen Konzepten bestimmt werden und unterschiedet sich je nach Region teils stark. Laut Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, sei in Deutschland ein »Methodenwildwuchs« bei der Bestimmung angemessener Wohnkosten durch die Kommunen entstanden.

Immer wieder hatten Sozialgerichte festgestellt, dass diese kommunalen Konzepte rechtswidrig sind. Von dieser Praxis sind nicht nur Erwerbslose, sondern auch arme Rentnerinnen und Rentner und erwerbsgeminderte Personen mit geringem Einkommen betroffen. Der in vielen Gegenden mangelnde Wohnraum trägt noch dazu bei, dass Betroffene in der Regel auch keine Alternative zu den teuren Mieten haben, weil günstige Wohnungen schlicht nicht vorhanden sind.

Die unrealistische Festsetzung der angemessenen Wohnkosten bei zugleich stetig steigenden Mieten führt dazu, dass zahlreiche Hartz-IV-Beziehende die Differenz zum Teil aus ihrem Regelbedarf zahlen müssen. Dieser ist aber sowieso schon sehr niedrig und wird unter anderem von Sozialverbänden als nicht armutsfest kritisiert. Eigentlich sollen aus dem Regelsatz Lebensmittel, Kleidung, Möbel, Kosten für soziale Teilhabe und Mobilität gezahlt werden. Leidtragende der zu geringen Wohnkostenübernahme müssen also an anderen lebensnotwendigen Posten sparen, um nicht auf der Straße zu landen. »Das führt regelmäßig zu einer Unterschreitung des durch die Verfassung garantierten Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum«, fasst Linke-Politikerin Kipping zusammen.

Aus der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage geht auch hervor, dass es regionale Unterschiede bei der Differenz zwischen tatsächlichen und übernommenen Wohnkosten gibt. Bei den Haushalten, die nicht die tatsächlichen Wohnkosten vom Jobcenter erhalten, müssen Betroffene in Berlin mit durchschnittlich 146 Euro am meisten dazuzahlen. In Bayern sind es im Schnitt rund 105 Euro, gefolgt von Hamburg mit 93 Euro. Berlin ist auch das Bundesland, in dem am häufigsten nicht die tatsächlichen Wohnkosten übernommen werden (22 Prozent), aber auch in Brandenburg, Thüringen und Bayern bekommen viele Hartz-IV-Haushalte (jeweils um die 16 bis 17 Prozent) nicht vollständig ihre Miete gezahlt. Außerdem ist in der Übersicht aufgeschlüsselt, wen es zahlenmäßig am härtesten trifft. Im Jobcenter Ebersberg (Bayern) werden betroffenen Haushalten demnach im Schnitt sogar knapp 235 Euro der tatsächlichen Unterkunftskosten verwehrt, in München rund 213 Euro und in Dachau fast 200 Euro.

»Die in der Antwort übermittelten Daten zeigen, dass diese Unterschreitung keine lokalen Einzelfälle sind, sondern es in fast allen Jobcentern eine hohe Zahl Betroffener gibt und die jeweiligen Wohnkostenlücken erheblich sind«, kommentiert Kipping die Zahlen. »Seit Jahren drücken sich die Bundesregierungen um eine verfassungskonforme Lösung für die Wohnkosten armer Menschen«, fasst Kipping zusammen. »Die Folge ist Verdrängung und bitterste Armut. Die Betroffenen müssen sich die Miete im wörtlichen Sinne vom Munde absparen.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.