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Muttern wie Sand am Meer – leider nur ein Traum

Um die Geschichte von Wirtschaftsreformen im Staatssozialismus und deren Scheitern zu verstehen, lohnt es, die Filme der Defa wieder anzuschauen

  • Felix Wemheuer
  • Lesedauer: 9 Min.

Zum 75. Jahrestag der Gründung der Defa (Deutsche Film AG) erfährt die Filmkunst der DDR dieses Jahr in vielen Online-Mediatheken und in der Presse eine späte Anerkennung. Besonders die verbotenen Filme des Jahres 1965/66 geben einen indirekten Einblick in die Auseinandersetzungen um das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung« (NÖSPL).

Anfang der 1960er Jahre wurde die sozialistische Welt von einer Welle von Wirtschaftsreformen erfasst. Die Einführung des NÖSPL war ein ambitionierter Versuch der SED-Führung um Walter Ulbricht, den Rückstand der ostdeutschen Industrie in Technologie und Produktivität gegenüber der Bundesrepublik aufzuholen. Die Partei vertrat ab 1963 eine neue ökonomische Agenda, die sie selbst während der ersten Reformwelle 1957 teilweise als »Revisionismus« gebrandmarkt hatte. In einem Dokument des Zentralkomitees (ZK) der SED von 1963 wurde argumentiert, dass es vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 nicht möglich gewesen sei, ein geschlossenes ökonomisches System des Sozialismus aufzubauen. Dogmatismus innerhalb der Partei habe außerdem dazu geführt, dass ökonomische Gesetze nicht richtig angewendet würden. Als ein zentrales Problem wurden »weiche Pläne« genannt. Betriebe versuchten, gegenüber den Behörden Planziele herunterzuhandeln, um sie leichter erfüllen zu können. Selbst bei Nichterfüllung mussten sie mit keinen schmerzhaften Konsequenzen rechnen. Die Führung kritisierte außerdem, das bisherige Anreizsystem führe dazu, dass viele Betriebe die Steigerung der Produktion oder die Senkung der Kosten zulasten der Qualität betreiben würden. Auch fehle Interesse daran, neue Technologien einzusetzen. Die Parteiführung beanstandete darüber hinaus, dass bei der Festlegung der Löhne und Prämien der Belegschaft und Betriebsleitungen zu wenig technisches Niveau und Produktivität berücksichtigt würden. Als Lösung wurde die Schaffung eines geschlossenen Systems von »ökonomischen Hebeln« wie Kosten, Preis, Umsatz und Gewinn, Kredit, Lohn und Prämien vorgeschlagen.

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Zu Beginn verband die Führung um Ulbricht die ökonomischen Reformen mit einer Aufwertung der Jugend, die zuvor von der Partei oft nur als Objekt der Erziehung angesehen worden war. Im Jugend-Kommuniqué des ZK der SED von 1963 wurde dazu aufgerufen, Jugendlichen mehr Vertrauen entgegenzubringen und ihnen auch Verantwortung zu übergeben. Mit Gängelei bei Musik- und Tanzstilen sollte Schluss sein. Außerdem bekamen Kulturschaffende aus Kunst, Literatur und Film mehr Freiräume, um Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft kritisch zu thematisieren. Viele Filmschaffende der staatlichen Filmproduktion der Defa nutzen die Lockerungen in der Kulturpolitik in diesem Sinne. Auch stilistisch waren die neuen Filme hochinteressant. Der Einfluss der französischen »Nouvelle Vague« war ebenso zu erkennen wie der aus Osteuropa, als sowjetische, tschechische und polnische Filme international neue Maßstäbe gesetzt hatten. Die Themen der Defa-Produktionen von 1965/66 reichten von Ungerechtigkeit im Justizsystem (»Das Kaninchen bin ich«, Regie: Kurt Maetzig) über ein Plädoyer für nichtkonformistische Erziehungsmethoden in der Schule (»Karla«, Regie: Herrmann Zschoche) bis zum Werben um mehr Verständnis für rebellische Jugendliche (»Denk bloß nicht, ich heule«, Regie: Frank Vogel). Auch Missstände in der Wirtschafts- und Arbeitswelt wurden thematisiert wie die irrationale »Tonnenideologie« zur Planerfüllung (»Der Frühling braucht Zeit«, Regie: Günter Stahnke), der Umgang mit Frustration junger Arbeiter (»Berlin um die Ecke«, Regie: Gerhard Klein) oder Konflikte zwischen Arbeitern und Bürokratie vor dem Hintergrund der Mangelwirtschaft (»Spur der Steine«, Regie: Frank Beyer).

Die kulturelle Öffnung nahm ein jähes Ende mit dem berühmt-berüchtigten »Kahlschlag- Plenum«, dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965. Eine Koalition um Erich Honecker setzte in Folge eine Verbotswelle von Literatur und fast der gesamten Jahresproduktion der Defa-Spielfilme durch, darunter auch die oben genannten Werke. Die Anhänger eines spätstalinistischen »sozialistischen Realismus« störte die Einführung widersprüchlicher Antihelden in die Geschichten, die Konzentration auf gesellschaftliche Konflikte, freizügige Liebesbeziehungen sowie neue, experimentelle ästhetische Formen.
Der gegenwärtig übliche Zugang zur Analyse der Defa-Verbotsfilme von 1965/66 ist in der Regel, nach »versteckter Regimekritik« zu suchen. Ich will mich hingegen darauf konzentrieren zu zeigen, dass die Filme im Wesentlichen auf der Linie der ursprünglichen Agenda der Reformpolitik der SED von 1963 lagen. Schließlich waren die Produktion der Filme und die Drehbücher zuvor von den zuständigen Behörden genehmigt worden. Regisseure wie Frank Beyer waren keine heimlichen Dissidenten, sondern betonten, dass sie ihre Filme als konstruktiven Beitrag zum Sozialismus sahen.

Die Dramaturgie der Filme zur Arbeitswelt konzentrierte sich in der Regel auf Konflikte zwischen verschiedenen Akteuren in Betrieben wie Leitung, Parteisekretär, Vertreter der technischen Intelligenz, Facharbeiter und Jugend, häufig kombiniert mit einer Liebesgeschichte. In »Der Frühling braucht Zeit« landet der parteilose Ingenieur und Abteilungsleiter eines staatlichen Gasversorgungsunternehmens, Heinz Solter, vor dem Untersuchungsrichter. Ihm wird vorgeworfen, gegen alle Vorschriften die Inbetriebnahme einer neuen Gasrohrleitung und dazugehörigen Station genehmigt zu haben. Zeitweise konnte das Unternehmen durch diese grob fahrlässige Entscheidung der Inbetriebnahme die Produktion steigern und im »sozialistischen Wettbewerb« gewinnen sowie Prämien einfahren. Schließlich kommt es jedoch zu einem schweren Betriebsunfall, der großen volkswirtschaftlichen Schaden verursacht. In den Ermittlungen kommt heraus, dass der gewissenhafte Solter frühzeitig vor den Folgen der Inbetriebnahme gewarnt und sich bei der Genehmigung nur dem Druck der Betriebsleitung gebeugt hatte. Nachdem der technische Direktor und der Parteisekretär Solter unterstützen, wird der Ingenieur am Ende der Geschichte rehabilitiert. Der Film kritisiert somit eine »Tonnenideologie« der Betriebsführung, die nur kurzsichtige Planerfüllung, Prämien und die eigene Karriere im Auge hat, aber alle langfristigen Folgen des eigenen Handelns ignoriert. Mit dem NÖSPL war außerdem eine Aufwertung der technischen Intelligenz und Expertenwissen verbunden, was auch der Film widerspiegelt. »Der Frühling braucht Zeit« erinnert von der Ästhetik an die Nouvelle Vague. Im schwarz-weiß gedrehten Film setzte der Regisseur Günther Stahnke weiße Wände, stilisiertes Dekor, helles Licht und Jazzmusik ein, um einen kühlen Entfremdungseffekt zu erzielen.

In »Berlin um die Ecke« knüpfte der Regisseur Gerhard Klein an das Thema seines Klassikers »Berlin – Ecke Schönhauser« (1957) an, nämlich den Umgang der Gesellschaft mit eigensinnigen und rebellischen Jugendlichen. Zu beiden Filmen schrieb der legendäre Autor Wolfgang Kohlhaase das Drehbuch. »Berlin um die Ecke« handelt von den jungen Arbeitern Olaf und Horst, die Teil einer Jugendbrigade in einem Metallbetrieb sind. Sie tragen Lederjacken und reparieren in ihrer Freizeit Mofas.

Unterlegt wird der Film mit damals hochmoderner Beat-Musik. Im Betrieb sind Olaf und Horst frustriert, weil die veralteten Maschinen oft kaputtgehen und Materialmangel zur Unterbrechung der Arbeit führt. Das Entlohnungssystem finden sie ungerecht, weil Lehrlinge trotz ihrer guten Arbeitsleistungen in der untersten Lohngruppe eingestuft sind. Aus Frust fälschen sie die Lohnberechnung zu ihren Gunsten. Nachdem sie von dem greisen Redakteur der Betriebszeitung wegen schlechter Moral mehrfach öffentlich kritisiert werden, gerät die Rebellion aus dem Ruder. An eine Wand im Werk wird die Parole »Wir sind alle Sklaven« geschmiert. Olaf lauert sogar dem Redakteur zu Hause auf und verprügelt ihn. Schließlich kann der gutmütige alte Arbeiter Paul, von Defa-Star Erwin Geschonneck gespielt, zwischen den streitenden Akteuren vermitteln. Zumindest Olaf kann wieder für die Sache des Sozialismus gewonnen werden. Nach dem Tod von Paul bei der Arbeit schreibt Olaf in der Betriebszeitung, dass der Traum seines Kollegen von einem Betrieb, in dem es 16-Millimeter-Muttern wie Sand am Meer gibt, in der Zukunft in Erfüllung gehen würde. Der Film thematisiert die Auswirkungen der »Mangelwirtschaft« auf Produktion und Stimmung der Belegschaft. Im Sinne des NÖSPL wird suggeriert, dass sich das Lohnsystem stärker an der tatsächlichen Arbeitsleistung orientieren sollte. Mit mehr Verständnis und Diskussion statt mit Strafen könnten rebellische Jugendliche wieder in die Gesellschaft integriert werden, so die Botschaft des Films.

Der bekannteste Verbotsfilm ist bis heute »Spur der Steine«, in dem Manfred Krug den Leiter einer Zimmermannsbrigade, Hannes Balla, auf einer Großbaustelle spielt. Die Verwaltung der Baustelle ist chaotisch, es herrscht häufig Materialmangel und Projektierungen für die Gebäude wurden falsch vorgenommen. Ballas Brigade ist für ihre gute Arbeitsleistungen bekannt, fällt aber durch Disziplinlosigkeit, »Erregung öffentlichen Ärgernisses« durch Nacktbaden im Ententeich, Belästigung von Frauen und gewaltsamer Beschaffung von Baumaterial negativ auf. Balla wird als Raubein mit gutem Herz dargestellt. Er hat immer einen frechen Spruch auf den Lippen wie: »Partei wird gemacht, wenn ich vom Bau bin.« Als Gegenspieler tritt der idealistische junge Parteisekretär Werner Horrath auf, der Balla als guten Vorarbeiter für Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität gewinnen möchte. Der Regisseur Frank Beyer ließ die staubige Großbaustelle durch viele Kameraeinstellungen in der Totalen wie eine amerikanische Western-Landschaft erscheinen, in der Sheriff (Horrath) und Anti-Held (Balla) aufeinandertreffen.

Beide Männer verlieben sich in die junge Ingenieurin Kati Klee. Dennoch kann Horrath Balla und Klee schließlich gewinnen, gemeinsam für die Behebung der Missverstände auf der Baustelle einzutreten. Balla kritisiert auf einer überregionalen Konferenz das falsche Anreizsystem bei der Abrechnung. Zwischenzeitlich tritt seine Brigade sogar in einen wilden Streik, weil von der Leitung versprochenes Holz nicht geliefert wird. Eine filmische Darstellung eines Streiks im Sozialismus wegen Materialmangels stellte damals einen gewissen Tabubruch dar. Am Ende des Films wird der verheiratete Horrath von seinem Posten als Parteisekretär abgesetzt und in die Produktion geschickt, da er seine Affäre mit Klee und deren Schwangerschaft vor der Parteiorganisation geheim gehalten hatte. Klee verlässt in der Folge die Großbaustelle, um woanders neu anzufangen. Der Film hat damit kein Happy End. Es entsteht der Eindruck, dass die jungen dynamischen Kräfte gescheitert sind und nun wieder die alte inkompetente, bürokratische Riege auf dem Bau das Sagen hat. »Spur der Steine« bleibt thematisch im Rahmen der Agenda des NÖSPL, ist aber nicht zuletzt durch Krugs Spiel des Balla deutlich frecher als andere Defa-Filme. Die drei Hauptpersonen der Geschichte werden mit menschlichen Schwächen und voller Widersprüche dargestellt. Sie weichen damit von den »sauber« proletarischen Helden des Sozialistischen Realismus der 1950er ab.

Das Verbot der Filme von 1965/66 war für die meisten Beteiligten ein Schock. Das zeigt auch das umfangreiche Bonusmaterial der DVD-Box »Verboten«, die neben 10 Defa-Filmen viele Interviews mit den damaligen Regisseuren und anderen Mitwirkenden enthält. Gegen »Der Frühling braucht Zeit« führte das Parteiorgan »Neues Deutschland« Abstraktion im Szenenbild und Mangel an moralisch einwandfreien Charakteren ins Feld. Die Hauptverwaltung Film stufte die Grundhaltung von »Berlin um die Ecke« als »zutiefst pessimistisch und subjektivistisch« ein. Der Film würdige das Bild von »den Menschen unserer Zeit« herab. »Spur der Steine« nannte der neue Kulturminister Klaus Gysi ein »Machwerk in jeder Beziehung«.

Das »Kahlschlag-Plenum« von 1965 sollte man als radikale Wende verstehen, in dem die Hardliner um Honecker sich zunächst gegen die Jugend- und Kulturpolitik der ursprünglichen Reformagenda von 1963 durchsetzen konnten. Der Riss ging durch den gesamten Partei- und Kulturapparat. Das Verhältnis zwischen SED und Kulturschaffenden wurde nachhaltig beschädigt. Die meisten Defa-Regisseure scheuten in der Folge vor Gegenwartsthemen der DDR-Gesellschaft zurück. Ökonomische Missstände konnten nach 1965 nicht mehr in der Offenheit wie während des »kurzen Sommers der DDR« thematisiert werden. Es sollte noch bis 1971 dauern, bis die Gegner des NÖSPL mit Unterstützung der sowjetischen Führung Ulbricht als Generalsekretär zu Fall bringen und das Ende der Wirtschaftsreformen durchsetzen konnten. Am Scheitern der Reformagenda von 1963 war Ulbricht natürlich nicht unschuldig, da er den »Kahlschlag« gegen Kulturschaffende und Jugend mitgetragen hatte. Der Anfang vom Ende der DDR war damit eingeleitet.

Zum Weiterlesen
Gunnar Decker 1965: Der kurze Sommer der DDR München 2015.
Andreas Kötzing, Ralf Schenk (Hg.) Verbotene Utopie: Die SED, die DEFA und das 11. Plenum Berlin 2015.
Felix Wemheuer ist Herausgeber des Readers Marktsozialismus: Eine kontroverse Debatte, der im April beim Promedia-Verlag erschien.

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