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Riskante Pillen in der Schwangerschaft
Arzneimittelreport: 60 Jahre nach dem Contergan-Skandal erhalten viele Frauen im gebärfähigen Alter gefährliche Medikamente
Die Barmer gehört zu den größeren gesetzlichen Krankenkassen, die auf Basis ihrer Versichertendaten jährlich Reports zur gesundheitlichen Versorgung erstellen. Am Donnerstag wurde in Berlin der neue Arzneimittelreport vorgestellt, der sich insbesondere den Medikamententherapien von Schwangeren widmet. Das Ergebnis von Datenanalyse und Befragung von etwa 1300 Müttern erscheint Barmer-Vorstand Christoph Straub besorgniserregend.
Allein bei dieser Kasse erhielten im Jahr 2018 fast 154 000 Frauen im Alter zwischen 13 und 49 Jahren potenziell kindsschädigende Arzneimittel verschrieben. Genauer unter die Lupe genommen wurden die Verordnungen dann noch einmal bei jenen 66 500 Frauen, die 2018 entbunden hatten. 663 von ihnen hatten im ersten Schwangerschaftsdrittel ein für den Embryo gefährliches Medikament, ein Teratogen, verordnet bekommen. Zu Beginn der Schwangerschaft ist die Gefahr für Fehlbildungen besonders hoch, da das ungeborene Kind am Anfang seiner Entwicklung extrem empfindlich ist.
Ein häufig verordnetes stark wirkendes Teratogen ist die Valproinsäure, ein Antiepileptikum. In dieser Medikamentengruppe hat es die höchste Missbildungsrate: Sind ungeborene Kinder dem Mittel in der Gebärmutter ausgesetzt, beträgt diese zehn Prozent. Das geht aus dem Eurap-Register hervor, das Schwangerschaften unter Antiepileptika-Einnahme erfasst und Risiken auswertet. Mit Hilfe des Registers konnte gezeigt werden, dass eine Umstellung auf sicherere Antiepileptika in der Schwangerschaft die Missbildungsrate deutlich senkt.
Aber auch die Gefährdung von nur einem Prozent einer Gruppe von Neugeborenen ist schon deshalb inakzeptabel, weil sie vermeidbar wäre. Kassenchef Straub weist hier auf Lücken im System hin: »Im weiteren Verlauf der Schwangerschaft erfolgt eine engere Betreuung durch Gynäkolog*innen, dann ist der Schutz vor den gefährlichen Arzneimitteln schon besser gegeben.« Letzterer müsse aber schon vor Beginn der Schwangerschaft ansetzen. Das hieße, dass verschreibende Ärzt*innen über Risiken einer Arzneimitteltherapie aktiv informieren.
Dies unterstreicht auch Daniel Grandt, Autor des Arzneimittelreports. Er betont, dass Mediziner*innen sich möglicher Risiken der Medikation nicht nur selbst bewusst sein sollten, sondern diese auch gegenüber den Patientinnen zum Ausdruck bringen müssten. Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken, beschäftigt sich seit vielen Jahren in verschiedenen Gremien mit Arzneimittelsicherheit. Er weist auf die Häufigkeit von Medikamententherapien bei den Frauen hin, die 2018 entbunden hatten: »Zwei von drei dieser Frauen erhielten Verordnungen für mindestens ein Arzneimittel vor der Schwangerschaft.« Etwa jede sechste Frau erhielt sogar eine Langzeitmedikation vor diesem Ereignis. Jung und gesund im Sinne von medikamentenfrei ist demnach nur eine Minderheit.
Hinzu kommt, dass nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jede dritte Schwangerschaft unbeabsichtigt, also bezogen auf den Zeitpunkt ungeplant, beziehungsweise ungewollt war. Für diesen großen Teil der gebärfähigen Frauen ist es besonders wichtig, dass grundsätzlich besprochen und dokumentiert wird, wenn teratogene Arzneimittel zur Anwendung kommen.
Neben dem Problembewusstsein der Mediziner*innen ist der schon länger gewünschte und geplante bundeseinheitliche Medikationsplan für alle Versicherten eine wichtige Sicherheitsvorkehrung. Er hat jetzt Chancen, weil er zu der neuen elektronischen Patientenakte gehört, die seit diesem Jahr von den gesetzlichen Kassen eingeführt wird. Für die Versicherten ist er freiwillig und kostenlos. Aktuell ist die Freiwilligkeit jedoch eine weitere Hürde, denn interessierte Patientinnen müssen häufig selbst aktiv werden. Zudem müssen Arztpraxen auch technisch in der Lage sein, dieses Dokument zu lesen und auszufüllen. Hier gibt es noch Rückstände, teils - unter Androhung einer einprozentigen Honorarkürzung - sind nicht alle niedergelassenen Ärzt*innen zu dieser Kooperation bereit.
Ein solches Dokument, das auch schon bisher erstellt werden konnte, erleichtert nicht nur den Gynäkolog*innen, sondern allen Ärzt*innen die Arbeit. Bei den von der Barmer befragten Frauen gaben nur 14 Prozent an, über einen Medikationsplan zu verfügen. Bei immer noch 12 Prozent der Schwangeren mit einer bestehenden Therapie war die Sicherheit der Arzneimittel mit ihnen in der gynäkologischen Praxis selbst dann nicht besprochen worden, als die Schwangerschaft schon sicher festgestellt war.
Das offensichtlich mangelnde Problembewusstsein verschreibender Ärzt*innen gibt umso mehr zu denken, als selbst vielen Laien seit dem Contergan-Skandal in den frühen 1960er Jahren erinnerlich ist, dass Medikamente der Mutter auch ungeborene Kinder schädigen können.
Ein Teil des Problems ist durchaus die Gewöhnung an Medikamentenverschreibungen schon in jungen Jahren, ein weiterer, dass einige der teratogenen Wirkstoffe jenseits einer Schwangerschaft durchaus therapeutisch sinnvoll sein können. Hier muss differenziert werden. Ein neues Projekt der Barmer soll dafür sorgen, dass Ärzt*innen schon beim Ausstellen eines Rezeptes Überblick über die bestehende Gesamtmedikation erhalten. Für Frauen im gebärfähigen Alter würde in diesem Rahmen automatisch ein Warnhinweis gegeben, wenn Medikamente in der frühen Schwangerschaft problematisch sein könnten.
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