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»China-Effekt« in der Nuklearindustrie

Der Ausbau der Atomkraft stagniert weltweit. Nicht jedoch in China und Russland

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Beim Bau des französischen Atomkraftwerks Flamanville 3 stiegen die ursprünglich auf 3,2 bis 3,3 Milliarden Euro geschätzten Kosten nach 17 Jahren Bauzeit auf 23,7 Milliarden Euro.
Beim Bau des französischen Atomkraftwerks Flamanville 3 stiegen die ursprünglich auf 3,2 bis 3,3 Milliarden Euro geschätzten Kosten nach 17 Jahren Bauzeit auf 23,7 Milliarden Euro.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz bezeichnet den deutschen Atomausstieg als »Irrsinn« und fordert ein Moratorium beim Rückbau der zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke (AKW). Markus Söder, bayerischer Ministerpräsident und CSU-Chef, geht weiter. Er will die 2023 vom Netz genommenen Meiler auf jeden Fall wieder anwerfen lassen. Andere Unionspolitiker sowie die AfD verlangen gar einen AKW-Neubau. Sie alle verweisen auf eine angeblich weltweite Renaissance der Atomenergie. Und auf die 31 Staaten, die bei den letzten beiden Klimakonferenzen in Dubai und Baku einem Bündnis beigetreten sind, das die weltweiten Atomkraft-Kapazitäten verdreifachen will.

Doch wie ist es wirklich bestellt um den vermeintlichen Aufschwung der Atomenergie? Antworten gibt der »World Nuclear Industry Status Report 2024« (Deutsch: WNISR 2024). Dieser Bericht wird von einem internationalen Experten-Team um Herausgeber Mycle Schneider erarbeitet und liefert seit 2007 jährlich ein Update zum aktuellen Status der weltweiten Nuklearindustrie.

Derzeit nutzt demnach etwa jedes sechste Land auf der Welt Atomkraft. Die überalterte globale Nuklearflotte zählt aktuell 408 Atommeiler. Das sind 30 weniger als der Spitzenwert im Jahr 2002. Zugleich verzeichnet der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Bruttostromerzeugung vor allem dank des Aufschwungs der Erneuerbaren seit 1996 einen deutlichen Abwärtstrend – von seinerzeit 17,5 Prozent auf 9,15 Prozent im Jahr 2023. Obwohl 2023 weltweit fünf neue Reaktoren ans Netz gegangen sind, ist die globale Gesamtkapazität auch in diesem Jahr gesunken, da zugleich fünf – insgesamt leistungsstärkere – Reaktoren abgeschaltet wurden.

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Dass die Gesamtkapazität seit Jahren dennoch auf einem stabilen Niveau bleibt, ist laut WNISR vor allem einem »China-Effekt« geschuldet. China hat seit 2004 insgesamt 49 Reaktoren ans Netz gebracht und keine abgeschaltet. Außerhalb Chinas gingen im Zeitraum von 2004 bis 2023 insgesamt 53 Reaktoren ans Netz und 104 wurden abgeschaltet. Neben China baut Schneider zufolge nur noch Russland Kernkraftwerke »auf einem signifikanten Niveau«. Mit insgesamt 20 Neubauprojekten in sieben Ländern – darunter auch das erste Kernkraftwerk in der Türkei – errichtet Russland durch seinen Staatskonzern Rosatom mit Abstand mehr Reaktoren im Ausland als andere Länder.

Bei den 27 EU-Staaten zeigt sich mit vier Inbetriebnahmen und 35 Schließungen die Abkehr von der Atomkraft deutlich. 101 Reaktoren waren hier 2024 noch am Netz. Ihre Nettobetriebskapazität belief sich auf 98 000 Megawatt – rund ein Viertel weniger als während des Höchststands im Jahr 2002. Auf dem amerikanischen Kontinent gibt es laut WNISR derzeit keine Bautätigkeit. Bei durchschnittlichen Bauzeiten für AKW von zehn Jahren sei daher auch dort bis Mitte der 2030er Jahre schon technisch keine Ausweitung der Atomenergie möglich.

Die Gründe für das schwache Wachstum bei Atomkraftwerken sehen sowohl Schneider als auch das Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR) in den extrem hohen Investitionskosten, den sehr langen Bauzeiten von zehn bis 15 Jahren und den ebenso hohen Finanzierungsrisiken. Letztere könnten praktisch nur von Staatsunternehmen getragen werden. Zudem sei der Markt auf sehr wenige, meist staatliche Unternehmen angewiesen, die überhaupt in der Lage seien, Atomkraftwerke zu bauen und zu exportieren. Ein Beispiel: das französische Atomkraftwerk Flamanville 3. Im Jahr 2006 wurden die Baukosten noch auf 3,2 bis 3,3 Milliarden Euro geschätzt, bei einer geplanten Bauzeit von fünf Jahren. Nach Angaben des französischen Rechnungshofs explodierten die Kosten nach nun 17 Jahren Bauzeit auf 23,7 Milliarden Euro.

Im Vergleich zur Atomkraft sind die Erneuerbaren Energien auf der Überholspur. So installierte allein China im Jahr 2024 Solaranlagen mit einer Rekordleistung von 277 Gigawatt. »Wenn China sein aktuelles Tempo beim Bau von Solaranlagen bis 2030 fortsetzt, wird das Land schon am Ende des Jahrzehnts mit eigenem, preiswertem Solarstrom ganz allein die heutige Stromerzeugung der gesamten globalen Atomkraftwerksflotte überholen«, prognostiziert IWR-Chef Norbert Allnoch. Der Bau neuer Atomkraftwerke werde mit dem hohen Tempo beim Zubau Erneuerbarer Energien nicht ansatzweise mithalten können.

Auch angesichts eines möglicherweise stark steigenden Strombedarfs durch Rechenzentren für Künstliche Intelligenz sieht das IWR die Atomkraft nicht als wettbewerbsfähige Alternative zu den Erneuerbaren Energien. »Ein AKW-Neubau dauert schlicht zu lange, ist extrem teuer und die Finanzierung bleibt riskant«, resümiert Allnoch. Die Zukunft gehöre den schneller und preiswerter zu bauenden Wind- und Solaranlagen.

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