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Rettende Inseln der Utopie
Leben zwischen Untergang und widerständigem Denken: Wie wir der Nihilismusfalle entkommen
Als die Titanic 1912 mit einem Eisberg zusammenstieß, war sie zwei Wochen zuvor als größtes Schiff der Welt in Dienst gestellt worden. Ein Triumph der Ingenieurskunst. Und nun wurde ihre Jungfernfahrt über den Atlantik jäh gestoppt, die Technik unterlag der Natur. Dieses Ereignis wurde zum Unheilsbild für das 20. Jahrhundert, das sich in technischen Rekorden ständig selbst überholte. Mit neuen technischen Möglichkeiten stellten sich neue Gefahren ein. Und wuchs dabei auch immer zugleich das Rettende? Keineswegs.
Friedrich Hölderlins 1803 vollendetes Gedicht »Patmos« hebt an: »Nah ist / und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.« Wieso wendet sich Hölderlin, der unter dem Eindruck der Französischen Revolution stand und manchem als Jakobiner galt, der Insel Patmos zu, auf der Johannes seine »Offenbarung« schrieb? Es ist das Panorama des Weltgerichts. Hölderlin, der schließlich der Französischen Revolution abschwört und versichert, er sei nie Jakobiner gewesen, ist fasziniert von der Apokalypse. Fühlt er sich selbst gar als ein Johannes?
Vielleicht denkt er an Robespierre, der den Geist der Französischen Revolution am radikalsten verkörperte und ihn dabei in Blut ersäufte. Die Frage scheint grundsätzlich und geht dem Problem der richtigen Überwindung früherer Menschheitseinfälle nach. Ist etwas an Zukunft mit der vergangenen Geschichte voreilig begraben worden? Man muss die Bestände immer wieder neu durchgehen. So ein Ansatz von Walter Benjamin, der Versuch, die Gegenwart aus ihrer zwanghaften Selbstbezüglichkeit herauszureißen. Von hier ist es nicht weit zu Ernst Blochs »Geist der Utopie« und dem »Prinzip Hoffnung«.
Seit dem Sieg des Westens über den Osten 1990 und dem vom Politikwissenschaftler Francis Fukuyama postulierten »Ende der Geschichte« war das Wort Utopie tabu. Mit ihm war es auch der Geist der Möglichkeit, des Noch-nicht-Seins, des Werdens. Alternativen sollte es fortan in der Geschichte nicht mehr geben. Der Utopie wurde der Prozess gemacht, geächtet als geistige Vorbedingung für den Totalitarismus, so Joachim Fest 1991 in seiner Schrift »Der zerstörte Traum«.
Aber warum dann nicht auch gleich den auf Zukunft - Erlösung! - hin gerichteten Geist des Christentums austreiben? Die urchristlichen Gemeinden lebten in der Naherwartung des Reichs Gottes - und achteten ihre irdische Existenz gering. Die Wiederkehr Jesu auf Erden verzögerte sich. Damit kam die Zukunft in die Geschichte.
Man begann zu rechnen, wann die Apokalypse eintreten werde. Aber sie kam nicht. Das Geschenk menschlichen Lebens war plötzlich etwas wert - man sah nun doch einen Sinn darin, sich im Diesseits einzurichten. »Stirb nicht im Wartesaal der Zukunft!«, lautete ein Slogan im DDR-Underground der 80er Jahre. Was nicht heißt, dass man hier nichts von der Zukunft wissen wollte. Im Gegenteil, aber nicht als Verlängerung von Gegenwart, die jedes utopische Potenzial eingebüßt hatte.
Patmos war für Hölderlin keine beliebige Kulisse. Nur auf einer Insel konnte Johannes seine Apokalypse schreiben. Dort war er sicher, aber auch gefangen auf engstem Raum. Und Hölderlin? War von dem Verlauf der Französischen Revolution enttäuscht, deren Ideale er gefeiert hatte. Alles bloß Politische erwies sich als unzureichend, gemessen am geistigen Anspruch des Ideals. Hölderlin erschrickt vor der Aussicht, angeklagt zu werden. Er flüchtet im Geiste auf die Insel Patmos. Seine Insel heißt Wahnsinn. Dieser schützt ihn vor der juristischen Verfolgung und vor der Welt schlechthin - und erlaubt es ihm, weiter zu dichten. Es begann für Jahrzehnte eine Existenz im Transit zwischen Diesseits und einem Jenseits, an das er nicht glaubte.
Was ist fortschrittlich, was reaktionär angesichts wechselnder Zeiten? Die Urteile darüber wechseln bereits vor Hölderlins Augen oft so schnell wie die Positionen der Akteure im Spiel um Macht. Die Französische Revolution mündete in die Kaiserkrönung Napoleons. Was wurde aus ihren Ideen? Waren es lauter Illusionen, die auf die Müllhalde der Geschichte gehören? »Was bleibet aber, stiften die Dichter«, hatte Hölderlin geschrieben - und diese Utopie verteidigte er bis zu seinem Tod 1843. Seine Worte sind Visionen, die der Offenbarung des Johannes nahekommen. Denn es stimmt nicht, dass das Weltgericht auf einen unbestimmten Zeitpunkt vertagt ist. Es findet statt, hier und jetzt, auch Hölderlin lebte im Bewusstsein, dass es eine Rettung gibt, aber diese einen hohen Preis erfordert.
»Vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungen und Formen«, schreibt er. Da lebt in ihm doch etwas vom Geist der Jakobiner weiter, den er 1793 so in Worte fasste: »Ich liebe das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte. Denn dies ist meine seligste Hoffnung, der Glaube, der mich stark erhält und tätig, unsere Enkel werden besser sein als wir, die Freiheit muss einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmenden Lichte, als unter der eiskalten Zone des Despotismus.«
Gehen wir einen Schritt hinter die bloß instrumentelle Vernunft zurück, suchen die Hoffnung in den Resten jener Metaphysik, die trotz Nietzsches »Gott ist tot« in der Welt geblieben sind. Gottfried Benn konstatiert: »Der Vollmensch stirbt aus.« Das ist der Befund, den bereits Hölderlin den Deutschen in seinem »Hyperion« übermittelt hatte.
Dieser wirkt in all seiner Wucht heute nach, auch, weil wir wissen, dass das Übel, das Hölderlin hier sieht, in den vergangenen mehr als zweihundert Jahren immer forcierterer Arbeitsteilung nicht kleiner geworden ist. Wo ist hier das Rettende - angesichts der Gefahr einer globalen Selbstzerstörung in der Gegenwart? Es ist immer noch da als Möglichkeitsraum. Aber nicht bloß funktional gedacht, auch nicht geistlich, sondern geistig. »Denken heißt überschreiten« lesen wir bei Bloch, in dem einiges von Hölderlin steckt.
Utopie meint einen Nicht-Ort, an dem Entfremdung aufgehoben ist. Er existiert nur, wenn wir uns entschließen, ihn zu suchen. Mit Glauben hat dies wenig tun, aber viel mit Erwartung. Hoffnung kann enttäuscht werden, wusste der Philosoph der Hoffnung, es gibt keinen Automatismus der Rettung. Kann nur ein Gott uns noch retten? Das hatte Heidegger angesichts des atomaren Wettrüstens im Kalten Krieg gemutmaßt.
Wenn wir wirklich anders leben, dann finden wir im Utopischen jenen Raum aus Zeit, in den Hölderlin mit seinem »Patmos«-Gedicht emigriert. Auch Blochs »Prinzip Hoffnung« mündet in dieser Vision: »So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«
In diesem Bild vom Anfang liegt eine Poesie, ohne die wir vielleicht immer weiter Klimawerte gegeneinander aufrechnen, aber nicht auf neue Weise »Vollmenschen« werden. Die Rettung davor, Anhängsel von mehr oder weniger subtil ihre Macht ausspielenden Maschinen zu sein, liegt - anders als es Heidegger postulierte - ganz bei uns und unserem Willen, uns dem zu verweigern.
Vermögen wir den metaphysischen Funken aller Zeiten in uns zu finden, wird auch eine andere Qualität des Zusammenlebens möglich. Dies ist eine Bestimmung von Kunst: uns mit dem Gattungssubjekt bekannt zu machen, das wir in uns tragen. Erinnern ist hier Arbeit am Entwurf des Menschen. Ohne Inseln der Utopie gibt es keine Rettung, nur ein Schneller oder Langsamer in den Untergang. Übersteigt dies nicht das menschliche Maß, dem Göttlichen ebenbürtig zu werden? Dieser Gott, das nach Ludwig Feuerbach von uns selbst geschaffene Gattungssubjekt, ist uns in all seiner Ähnlichkeit auch wieder unähnlich. In aller Nähe erwächst Distanz, entzieht sich dieser Gott dem Zugriff des Einzelnen. Das sagt die erste Zeile des Patmos- Gedichts. Die zweite spricht davon, dass es gerade die Differenz zwischen uns und dem uns ebenbildlichen Gott ist, aus der das Rettende erwächst.
Wir leben zwischen Untergang und Rettung. Versimpelt mit den Worten von Wolf Biermann gesagt: Man muss immer zu weit gehen, aber nicht zu weit zu weit. Kein heroischer Gang ist das, eher der eines in seinem Lebensparadox gefangenen unduldsamen Dulders, mit Sinn für die Refugien des gelingenden Ausdrucks, aus denen Widerständigkeit und mögliche Rettung kommt.
Vor den Augen des metaphysisch Obdachlosen ersteht die Urzelle einer »Ästhetik des Widerstands« (Peter Weiss). Ohne widerständiges Denken, das aller Tat vorausgeht, droht die Nihilismusfalle. Ihr entkommt allein der Denker der Utopie, ein skeptischer Gottsucher, der die Transzendenz der schöpferischen Lust feiert - und sich dabei im unabschließbaren Fragment zu bescheiden weiß.
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