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Zweifacher Blick durchs Schlüsselloch
Am Deutschen Theater Berlin feierte Timofej Kuljabins Überschreibung von »Fräulein Julie« Premiere
Timofej Kuljabin ist ein geschickter Überschreiber klassischer Dramen. Der russische Regisseur und Leiter des Theaters »Rote Fackel« in Nowosibirsk erfuhr Weltruhm durch seine in Gebärdensprache aufgeführte Fassung von Anton Tschechows »Drei Schwestern«. Die emotionalen Zustände der Personen wurden in diesem Kammerspiel ungewöhnlich deutlich hervorgearbeitet. Bei Henrik Ibsens »Nora« ließ er die Figuren über Kurznachrichten kommunizieren. Für August Strindbergs »Fräulein Julie«, die er gemeinsam mit Roman Dolzhanskij jetzt am Deutschen Theater in Berlin überschrieb, wählte er ein anderes Motiv für die Aktualisierung: die Überwachung.
Eine Figur des bei Strindberg tragisch endenden Liebesspiels zwischen adliger Lebefrau und Diener agiert nicht auf eigene Rechnung. Jean wird von Thomas, dem früheren Verlobten Julies, angeheuert, um diese in einer von einer Überwachungskamera aufgezeichneten Szene bloßzustellen. Für Thomas handelt es sich um Rache. Denn Julie hat ein Video hochgeladen, das Thomas beim Sex mit einer Puppe zeigt. Sie hatte ihn dazu gebracht, weil sie, angeblich noch Jungfrau, sehen wolle, ob ihr Zukünftiger zu variablen Sexpraktiken fähig sei.
In den Kammerspielen des Deutschen Theaters, wo die Inszenierung am vergangenen Donnerstag Premiere hatte, sieht man auf der zweigeschossigen Bühne Thomas in seinem Zimmer sitzen. Er hat einen Computer vor sich und einen Kopfhörer über die Ohren gestülpt. Diese von Kuljabin und Dolzhanskij neu geschaffene Figur dirigiert den Chauffeur Jean. Erst installiert Jean die Überwachungskamera und steckt sich auch selbst einen Minikopfhörer ins Ohr, um stets mit Thomas verbunden zu sein. Als Julie auftaucht, spricht der ferne Ex-Verlobte Wort für Wort vor, was Jean zu Julie sagt. Der Chauffeur ist sein ferngesteuerter Racheengel.
Spannend daran ist die doppelte Wahrnehmungsebene. Natürlich besteht eine Differenz in den Worten, wenn Thomas, gespielt von Božidar Kocevski, sie ausspricht, und wenn Felix Goeser sie als Jean einen Moment später artikuliert. Bei Thomas’ Worten handelt es sich um Regieanweisungen, in die manchmal auch der Ausdruck der eigenen Pein dringt. Bei Jean sind es anfangs professionell replizierte Sätze. Zunehmend wird aber auch bei ihm aus dem bezahlten Arrangement emotionaler Ernst. Wie bei Strindberg verheddert er sich im amourösen Spiel mit der Tochter des Hausherrn. Er »improvisiert«, wie Thomas es nennt.
Ambivalent bleibt dabei, wer wen verführt. Betreibt Julie ihr Dominanzspiel einer verwöhnten Tochter mit dem Hausangestellten? Findet Jean Gefallen an der von Thomas inszenierten Intrige? Erweckt Julie in ihm echtes Begehren?
Kuljabin und Dolzhanskij haben die Standesdifferenz zwischen Adliger und Diener, die bei Strindberg noch dramatische Triebkraft war, durch das Rache- und Überwachungsszenario ersetzt. Dieser Kniff macht die ganze Konstellation heute glaubwürdig. Er führt auch zu neuen ästhetischen Qualitäten. Das Publikum wird zum zweifachen Schlüssellochgucker, einmal in der tradierten Form des Kammerspiels in der Guckkastenbühne, das zweite Mal als Voyeur und Nutznießer digitaler Überwachungstechniken. Die kühle Ästhetik, die das Videobild gewöhnlich ins Theater bringt und die oft als Gimmick verkommt, ist in diesem Fall exzellent ins Geschehen integriert. Denn in einem dritten Bild der dreiteiligen Bühne ist stets der Überwacher Thomas in seinem Regieraum präsent.
Kuljabins »Fräulein Julie« stellt die Fragen nach Echtheit und Inszenierung neu. Der Abend erkundet jene Zone, die zwischen einer Person und ihrem Social-Media-Abbild steckt. Denn ursprünglich ist es in diesem szenischen Arrangement Julie, die ihren Followern Videobruchstücke ihres Lebens offeriert. In diesem Kontext ist auch die Sexpuppensequenz mit Thomas entstanden. Julie verkörpert als Figur jene Rücksichtslosigkeit, die hinter der Produktion von Social-Media-Inhalten stecken kann, wenn die Protagonisten sich gezwungen sehen, sich immer neu zu überbieten.
Ein wenig konstruiert wirkt die psychologische Begründung, die Kuljabin und Dolzhanskij für Julies Handeln entwickeln. Die je unterschiedlichen Rücksichtslosigkeiten von Julies Eltern kulminieren in ihr, kämpfen in ihr einen mörderischen Kampf aus, der sie zur permanenten Provokateurin macht. Julie klagt sogar darüber, nie sie selbst zu sein, sondern nur das Produkt ihrer Eltern. Dieser Moment wirkt, als hätte Kuljabin ihn eigens für die Alphatiergeneration der russischen Neureichen geschaffen, die ihren Sprösslingen alle erdenklichen materiellen Wohltaten angedeihen lassen wollen, ihnen aber auch verzweifelt den räuberischen Mut ihrer eigenen Aufsteigerjugend zu implementieren versuchen. In der Schluri-Hauptstadt des erschlafften Deutschland wirkt das vor allem kurios.
Insgesamt ist dem Regisseur aus Sibirien aber ein grandioser Abend gelungen. Das Überwachungssetting ist brillant. Dass diese Idee aufgeht, liegt auch an den famosen Schauspieler*innen. Linn Reusse legt ihre Julie zunächst als überdrehtes Einzelkind an, selbstsüchtig, dabei hochexperimentell im Erkunden der eigenen Sehnsüchte und auf keinerlei Grenzen achtend. Sie ist selbst verletzt und findet Momente höchster Befriedigung nur dann, wenn sie andere verletzt. Reusse, Enkelin der Defa-Schauspielerin Sigrid Göhler (bekannt geworden vor allem als Leutnant Vera Arndt im Polizeiruf) und von Peter Reusse, einem Urgestein am Deutschen Theater, spielt diese Julie in all ihrer Brüchigkeit. Sie lotet die ganze Bandbreite von verletzt und verletzend, von neugierig und hoffend bis herrschend und dominant aus. Felix Goeser legt die Rolle des Gegenparts Jean zunächst sehr kompakt an. Aber auch er spielt auf immer mehr Registern. Besonders reizvoll ist es, dass ineinander übergeht, wann Goeser den Jean spielt und wann dieser Jean nur nach den Anweisungen von Thomas und in der Interaktion mit Julie jemanden mimt, der nur in der Fiktion der Intrige existiert. Kocevski als Thomas fällt in der Darstellung etwas ab. Das mag aber auch an der Rolle des Überwachers selbst liegen. Schließlich entgleitet auch seiner Figur das Spiel. Franziska Machens übernimmt in diesem Kammerspiel die Nebenrolle der Köchin Christine, die eigentlich mit Jean liiert ist und als Maßstab für Normalität in der Schau der Exzentriker fungiert.
Diese Strindberg-Inszenierung ist nicht nur vom Staub der Dekaden befreit. Das Skelett des Dramas wird auch zum Vehikel ganz neuer Themen. Ein guter Zugriff Kuljabins - und ein guter Griff des Deutschen Theaters, den Regiestar aus Sibirien für diese Inszenierung zu verpflichten. Er setzt Maßstäbe für ein hyperrealistisches Theater.
Nächste Vorstellungen am 29. und 30.8. sowie am 11., 12., 29. und 30.9.
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