Milizionäre auf dem Motorrad

Im westafrikanischen Niger nimmt die Gewalt islamistischer Terrorgruppen zu - trotz internationaler Militärmissionen in der Region

  • Bettina Rühl
  • Lesedauer: 10 Min.

Amina Diamballa sitzt an einem Tag Mitte Mai mit Sack und Pack und ihren drei Kindern auf den Rängen des Sportstadions von Tillabery, einer Stadt im Westen des westafrikanischen Staates Niger. Im Arm hält sie ihre jüngste Tochter, das kleine Mädchen wurde wenige Tage vorher geboren. Kurz nach ihrer Geburt ergriffen Diamballa und ihr Mann zusammen mit den Kindern und den übrigen Bewohnern ihres und der benachbarten Dörfer die Flucht, aus Angst vor weiteren Überfällen islamistischer Angreifer.

»Sie kommen mit vielen Motorrädern in ein Dorf«, berichtet die junge Frau. Die Milizionäre seien bisher immer schwer bewaffnet gewesen. Sie öffneten einfach die Türen der Häuser, durchsuchten alle Zimmer. »Alle Männer, die sie finden, zwingen sie mit nach draußen und schlagen sie zusammen, manche schlagen sie zu Tode, bevor sie wieder verschwinden.« Das gesamte Vieh nähmen sie auch mit. Diamballa blieb mit ihrer Familie zwar lebend, aber völlig mittellos zurück. Im Stadion von Tillabery ist der Sitzplatz auf den Betonrängen fast noch ein Privileg. Mitte Mai haben hier etwa 10 000 Menschen Zuflucht gesucht. Viele Familien haben nur noch in der prallen Sonne Platz gefunden und hausen nun auf dem Boden, die Kinder toben überall herum.

Tillabery ist die Hauptstadt der gleichnamigen nigrischen Region im Südwesten des Landes, im Dreiländereck Mali-Niger-Burkina Faso. Die Grenzregion ist einer der Hotspots der Krise, die sich seit einigen Jahren im gesamten Sahel zuspitzt, also in der trockenen Vegetationszone am südlichen Rand der Sahara. Zwischen Januar und Juli dieses Jahres wurde in Tillabery jeden Monat mindestens ein schweres Massaker verübt. Insgesamt wurden mehr als 400 unbewaffnete Menschen getötet. Außerdem begehen islamistische Milizionäre regelmäßig Anschläge auf die nigrischen Sicherheitskräfte. In der Region sind etliche islamistische Terrorgruppen aktiv, von denen einige dem sogenannten Islamischen Staat gegenüber loyal sind, andere dem Al-Qaida-Netzwerk Treue geschworen haben.

In Niger und in den Nachbarstaaten Burkina Faso und Mali verschlechtert sich die Sicherheitslage seit Jahren drastisch, obwohl Tausende internationale Soldaten versuchen, die Staaten - vor allem Mali - bei der Stabilisierung zu unterstützen. In Mali nahm die Krise im Sahel 2012 ihren Anfang, von dort dehnte sie sich in die Nachbarländer aus. Corinne Dufka von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hält viele der Massaker dieses Jahres für Vergeltungsaktionen islamistischer Gruppen an der Bevölkerung. Dabei gehe es oft um deren Weigerung, Zwangsgelder an die Terrorgruppen zu zahlen. Diese Zahlungen werden von den Milizen gerne als »Zakat« bezeichnet, als islamische Steuer. Um ihren Besitz und ihr Leben verteidigen zu können, bilden viele Dorfgemeinschaften Selbstverteidigungsmilizen, da die staatlichen Sicherheitskräfte ihnen ganz offensichtlich nicht oder viel zu selten zur Hilfe kommen. »Die Massaker richten sich oft gezielt gegen Gemeinden und Dörfer, die es gewagt haben, sich gegen den Islamischen Staat zu wehren«, erklärt Dufka. Sie befürchtet nun eine weitere Eskalation der Gewalt zwischen diesen Selbstverteidigungsmilizen und den islamistischen Gruppen.

Was in Niger passieren könnte, lässt sich im Nachbarland Mali beobachten. Dort hat der Staat zur Bildung von Selbstverteidigungsmilizen ermutigt und sie laut malischen sowie internationalen Menschenrechtsorganisationen und Kritikern der Regierung sogar gefördert. Doch statt sich nur selbst zu verteidigen, greifen die bewaffneten, ethnisch geprägten Verbände häufig andere Volksgruppen an, unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terror.

Die Gewalt im Sahel nimmt also nicht nur zu, weil die islamistischen Kämpfer immer skrupelloser werden. Sondern auch, weil die staatlichen Sicherheitskräfte und mit ihr verbündete Milizen in den vergangenen Monaten ebenfalls immer brutaler gegen Unbeteiligte vorgegangen sind. Laut der Konfliktforschungsorganisation ACLED wurden in der Region im vergangenen Jahr sogar mehr Zivilisten von Soldaten, Polizisten oder Milizionären getötet als von dschihadistischen Gruppierungen. In Niger dokumentierte die staatliche Menschenrechtskommission mehrere Massenhinrichtungen an Zivilisten durch nigrische Soldaten. Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte gehören zu den wichtigsten Gründen dafür, warum sich Menschen islamistischen Gruppen anschließen.

Anna Schmauder vom Thinktank Clingendael-Institut plädiert deshalb für einen anderen Fokus im Kampf gegen die Gewalt. »Wenn man sich die Lage im Sahel der letzten zehn Jahre anschaut, dann hat sich die Lage ja nicht nur nicht verbessert, sie hat sich auch nicht stabilisiert, sondern sie hat sich stattdessen verschlechtert«, gibt sie zu bedenken. »Und dann wäre die Frage: Was kann man noch tun? Oder: Was müsste stattdessen getan werden, um eben nicht den Fokus allein auf den Anti-Terror-Kampf zu richten?« Denn die vielen internationalen militärischen Missionen haben für den Schutz der Bevölkerung im Sahel wenig gebracht. Ganz im Gegenteil hat sich die Zahl der zivilen Opfer in den vergangenen Jahren nach UN-Angaben vervielfacht.

Major Andrew Caulk, Sprecher des US-amerikanischen Kommandos für spezielle Militäreinsätze in Afrika mit Sitz in Stuttgart, plädiert - wenig überraschend - trotzdem entschieden dafür, gegen die islamistischen Terrorgruppen weiter militärisch vorzugehen. Die US-Armee unterstützt nigrische und andere afrikanische Partner im Sahel im Kampf gegen islamistische Milizen. »Wir stellen ihnen vor allem militärische Aufklärung zur Verfügung«, erklärt Caulk. Entsprechende Erkenntnisse würden auch mit den westlichen Partnern geteilt, die im Sahel ebenfalls gegen Terrorgruppen vorgehen, beispielsweise Frankreich. Nach Einschätzung der US-Armee haben die Al-Qaida-nahen Milizen, die vor allem von Mali aus operieren, im gesamten Sahel etwa 2000 Kämpfer. Zum sogenannten Islamischen Staat gehören nach US-amerikanischen Erkenntnissen in Niger wenige Hundert Bewaffnete.

»Diese radikalen Gruppen greifen nicht unbedingt die harten Ziele an«, sagt Caulk zur steigenden Gewalt der Gruppen gegen die Bevölkerung. »Stattdessen gehen sie den Weg des geringsten Widerstands, auf dem sie ihr Ziel trotzdem erreichen: die Bevölkerung auszubeuten.« Caulk plädiert also für eine Fortsetzung der militärischen Operationen im Sahel, aber auch er ist sich bewusst, dass es »keine rein militärische Lösung für den gewalttätigen Extremismus im Sahel oder anderswo in Afrika« gibt. Denn die Ursachen des Terrors lägen in der Regierungsführung, der Wirtschaft, der Verteilung von Nahrungsmitteln, der politischen Instabilität. Kernproblem ist also das Fehlen von staatlicher Dienstleistung, oder anders gesagt: Die betroffenen Staaten bleiben der Bevölkerung weitgehend schuldig, was eigentlich ihre Pflicht wäre. Der Schutz der Bevölkerung ist die wichtigste staatliche Aufgabe, aber auch Bildung, Gesundheit, gesellschaftliche Teilhabe und andere Bürgerrechte gehören dazu.

Mehr Bildungsangebote zu schaffen ist Mano Aghalis große Hoffnung. Er leitet die nigrische Hilfsorganisation HED Tamat und ist an diesem Morgen 300 Kilometer weit aus der Hauptstadt Niamey in das Örtchen Sanam gefahren, am südöstlichen Ende von Tillabery, nicht weit von der Grenze zu Nigeria entfernt. Dort will er eine Solaranlage offiziell an die weiterführende Schule des Ortes übergeben, die faktisch schon seit März ihren Dienst tut. Gekleidet in ein blaues, bodenlanges Gewand, auf dem Kopf einen weißen Turban, steht der hoch gewachsene Tuareg im Schatten eines Baumes. Um ihn drängen sich die Schülerinnen und Schüler, hängen an seinen Lippen. Besuch aus der Hauptstadt ist selten und immer ein Ereignis - besonders, seit sich die Sicherheitslage in Tillabery derart verschlechtert hat, dass unmittelbar am Stadtrand die »rote« Gefahrenzone beginnt.

»Mit diesem Projekt wollen wir die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung gegen die Umtriebe extremistischer Gruppen stärken«, erklärt Aghali den Lehrenden und Lernenden. »Wo sie aktiv sind, gibt es keinen Frieden mehr, das gesamte Leben ist beeinträchtigt. Hier in Sanam geht es konkret darum, dass die Schülerinnen und Schüler unter besseren Bedingungen lernen können.« Der Weg zur Verbesserung scheint einfach: Dank des Solarstroms gibt es in den acht Klassenzimmern nun Licht und Ventilatoren - bei Temperaturen von deutlich über 40 Grad Celsius ist etwas Kühlung ein wertvolles Gut. Weil das Lernen leichter falle, lernten jetzt alle mehr, meint der 16-jährige Bashir. »Wir können sogar abends noch kommen, um Hausaufgaben zu machen«, sagt er fast begeistert, denn neuerdings gibt es in der Schule ja auch Licht.

Das Geld für die Photovoltaikanlage kam aus Deutschland, vom Auswärtigen Amt. In 45 Gemeinden in ganz Niger werden Klassenräume mit Solaranlagen versehen, wieder instand gesetzt oder überhaupt erst gebaut. Der Gedanke: Nur Bildung und die Möglichkeit, mit einem Beruf im zivilen Leben Geld zu verdienen, hält die jungen Menschen von den radikal-islamistischen Gruppen fern, die seit Jahren in Niger und den benachbarten Sahelstaaten operieren. Trotz des neuen Komforts lernen Bashir und die anderen nicht unbeschwert. Denn immer wieder hören sie von neuen Angriffen islamistischer Gruppen, von brutalen Massakern. »Das setzt mir wirklich zu, es verstört mich«, sagt Bashir. Etliche Schulen hätten wegen der Angriffe islamistischer Milizen schon schließen müssen. »Ich habe Angst, dass es bei uns auch bald so weit ist. Die Islamisten haben einige Schulen sogar abgebrannt.«

Immer öfter greifen islamistische Gruppen gezielt Schulen, Lernende und Lehrende an. Bisher machte vor allem Nigeria entsprechende Schlagzeilen: Die dortige Terrorgruppe Boko Haram, auf Deutsch etwa: »Westliche Bildung ist Sünde«, erklärte den Kampf gegen alles, was nicht islamischer Unterricht ist. Milizionäre von Boko Haram haben längst die Grenze zum Nachbarland Niger überquert. Aber auch andere islamistische Terrorgruppen wollen vermeintlich westliche Bildung verhindern. Einige davon haben dem Terrornetzwerk Al-Qaida die Treue geschworen, andere dem sogenannten Islamischen Staat.

Die Organisation »Globale Koalition zum Schutz der Bildung vor Angriffen« zählt die Attacken auf Schulen. Nach den jüngsten Zahlen von 2020 sind wegen islamistischer Angriffe in Burkina Faso und Niger insgesamt 2000 Schulen nicht in Betrieb, außerdem in Mali mehr als 1100 geschlossen. Einige wurden abgebrannt, andere geplündert, die Einrichtung zerstört, Lehrende bedroht, entführt, getötet. Staatliche Sicherheitskräfte und bewaffnete Milizen nutzten viele Schulgebäude für militärische Zwecke, beispielsweise als Feldlager. Das ist ein herber Rückschlag für den Versuch, die Einschulungsrate in Niger zu erhöhen - nicht einmal die Hälfte der Kinder geht in die Schule. Auch, weil es nicht genug Angebote gibt, wie Aghali meint. Denn der Wunsch nach Bildung sei mittlerweile weit verbreitet, die Bevölkerung habe erkannt, dass sie davon profitiere.

Aber bis sich Bildung in Geld übersetzt, braucht es Geduld. Die Terrorgruppen dagegen stellen in ihrer Propaganda schnelle Lösungen in Aussicht: Sie versprechen ein Motorrad oder andere materielle Vorteile, manchmal Geld. Aghali hält die weit verbreitete Armut für einen der wichtigsten Gründe dafür, dass radikale Islamisten im gesamten Sahel auf dem Vormarsch sind. Und Niger ist laut dem Human Development Index das ärmste Land der Welt. »Schon vor der Corona-Pandemie war die Armut für viele Menschen Grund genug, sich zu bewaffnen«, sagt Aghali. Seiner Meinung nach liegt das auch daran, dass man viel zu leicht an Waffen kommt. »In manchen Regionen ist es leichter, an eine Kalaschnikow zu kommen, als an ein Baguette.«

HED Tamat versucht deshalb auch, möglichst viele junge Menschen beim Eintritt in die berufliche Selbstständigkeit zu unterstützen. Die 19-jährige Hawa Husseini zum Beispiel konnte in ihrem Heimatdorf Djagourou eine Schneiderwerkstatt eröffnen. Entscheidend dafür war, dass sie nicht nur das Nähen lernte, sondern für den Start auch eine Maschine sowie Schere, Nadeln, Faden und andere Grundausstattung bekam.

Nun verdiene sie in einem normalen Monat umgerechnet etwa 76 Euro - in ihrem Dorf kein schlechter Verdienst. Und es reicht dafür aus, dass Hawa ihre Familie unterstützen kann, also ihre Eltern und ihre 13 Geschwister. Von denen hat sonst niemand Arbeit, auch keiner der älteren Brüder. Die Angst davor, dass sie sich ebenfalls von einer der Terrorgruppen verführen lassen, hat sie noch nicht ganz verloren. Aber: »Seit ich genug verdiene, um die Familie zu ernähren, glaube ich, dass sie bleiben.« Auch weil die Brüder mehr auf Hawas Meinung hören, seit die Schwester das Geld für alle nach Hause bringt.

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