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- Linke und Sahra Wagenknecht
Zerreißprobe mit Luftanhalten
In der Linken schwelt der Streit um das neue Buch Sahra Wagenknechts weiter
Die Linke wirkt ratlos. Trotz bester Absichten, Programmatik und größter Entschlossenheit kriegt die Wählerschaft irgendwie nicht mit, was für sie gut ist. Doch nicht die Wähler haben ein Erkenntnisproblem, sondern die Linke selbst.
Paradox: In Nordrhein-Westfalen ist Sahra Wagenknecht, Spitzenkandidatin des Landesverbands zur Bundestagswahl, mit einem Parteiausschlussverfahren konfrontiert. Sie verstoße gegen das Parteiprogramm und die Prinzipien der Linken, spalte damit die Partei, argumentieren die Antragsteller, die aus verschiedenen Landesverbänden kommen. Sie dürften kaum Erfolg haben, und der Bundesvorstand wie auch die Spitze der Bundestagsfraktion, deren Vorsitzende Wagenknecht bis 2019 war, haben sich über das Ausschlussverfahren wenig erfreut geäußert. Doch zeigt der Vorgang eine wachsende Kluft innerhalb der Partei.
Wagenknecht polarisiert. Ihre Positionen sind es, mit denen Teile der Linken nicht klarkommen. Tiefes Unverständnis begleitet immer wieder ihre Wortmeldungen. Mit ihrem im April veröffentlichten Buch »Die Selbstgerechten« hat Wagenknecht die Gegenseite nun frontal angegriffen, und diese reagiert entsprechend getroffen. Doch die seit Jahren offenbar wachsenden Aversionen gegen die eigene Spitzenfrau kollidieren hilflos mit der Beliebtheit und dem öffentlichen Erfolg, den diese hat.
Kampfansage an Linksliberale
Wagenknecht denkt traditionell links, wie sie selbst sagt. In den Augen ihrer Kritiker ist dieses Denken jedoch wenigstens ein altes, wenn nicht reaktionäres. Ein Urteil, das nicht nur auf Wagenknecht, sondern auch auf viele Wähler ausgrenzend wirken dürfte. Wer heute die Linke nicht mehr für »seine Partei« hält, stimmt Wagenknechts Thesen dennoch häufig zu. Bei ihrer Analyse der Minderheiten- und Identitätspolitik der Linken nimmt Wagenknecht gar nicht die eigene Partei für die Entwicklung der gesellschaftlichen Linken in Haftung. Ihr Buch ist eine Kampfansage an die Linksliberalen in und außerhalb der eigenen Partei, die sich etwa auch bei den Grünen und der SPD finden; den wohlklingenden Begriff entkleidet sie seiner schönen Hülle. Linksliberale seien nicht liberal, sondern illiberal, betont Wagenknecht, und vor allem seien sie nicht links.
Das Ganze ist am Ende ein Erkenntnisproblem. Die wissenschaftliche Aneignung der Welt, die die Linke für sich beansprucht, bringt inzwischen Theorien wie die der »verbindenden Klassenpolitik« hervor, die etwa der frühere Parteivorsitzende Bernd Riexinger vertritt. Von ihm spricht Wagenknecht in ihrem Buch als jemandem, »dessen Name heute zu Recht vergessen ist«.
Wer Geschichte nicht als zufälliges Ergebnis von Entscheidungen willensstarker Personen betrachtet, sondern – linkstraditionell – als angetrieben von Widersprüchen, ursächlich jenen, die aus der Arbeit und der Aneignung ihrer Ergebnisse entstehen, der kommt auf andere Ergebnisse bei der Definition von Klassen als jemand, der jede größere Gruppe mit eigenen Interessen zur Klasse erklärt oder alle Lohnabhängigen zu einer »Klasse der vielen«, wie die Bewegungslinke es tut.
Nur scheinbar geht es um die Frage, ob Rassismus, Homophobie und Flüchtlingspolitik, die in den letzten Jahren verstärkt zum Kampffeld der Linken geworden sind, die soziale Frage in den Hintergrund rücken lassen. Man könne doch gut und gern beides gleichermaßen vertreten, so Wagenknechts Kritiker – soziale und Minderheitenrechte. Und man tue es ja auch dauernd.
Wagenknecht zeigt jedoch, dass »Identitätspolitik« das Gegenteil sozialer Politik für die Mehrheit ist und dass ihre Vertreter in der Konsequenz für eine Individualisierung der Menschen werben, nicht für ihren Zusammenhalt. Für ihre Anhänger ist Identitätspolitik aber kein Widerspruch zur Klassenpolitik, sondern geradezu ihre Vollendung.
Was die Linke einst in der Auseinandersetzung mit anderen Parteien und Kräften einte, spaltet sie nun selbst. Es ist kein Zufall, dass gerade ostdeutsche Linke sich auf der Seite der Wagenknecht-Kritiker finden. In der PDS hatten sie mühevoll einen Konsens darüber erarbeitet, dass politische und andere Minderheiten nie wieder unter Verletzung demokratischer Grundregeln – wie in der DDR – für die vermeintlichen Interessen der Mehrheit in Haftung genommen werden dürften. Doch die andere Seite der Wahrheit ist jene, auf die Wagenknecht hinweist: Politische Akteure, die Minderheitenrechte – so sehr diese auch unterstützt gehören – in den Vordergrund stellen, fordern damit letztlich eine Privilegierung dieser Minderheiten, die am Ende nur auf Kosten der Mehrheit durchsetzbar ist.
Der Streit ist vertagt
Der Kampf gegen Diskriminierung bringt dabei seltsame Blüten hervor – und den vermeintlich bisher privilegierten Teil der Bevölkerung gegen die Linksliberalen auf: Alte weiße Männer werden ebenso zum Feindbild wie sogenannte Cis-Frauen oder Menschen, die nicht ohne weiteres bereit sind, offene Grenzen zu befürworten. Im Ergebnis wenden viele dieser »normalen« Menschen sich von der Linken ab.
Der Vorwurf an Wagenknecht lautet, sie agiere taktisch, um der AfD auf den Leim gehende Bevölkerungsteile als Wähler für die Linke zurückzuholen. Dabei argumentiert die Politikerin viel weniger parteitaktisch, sondern grundsätzlich: Die heutigen Linksliberalen verlören mit ihrem Drang, Minderheitenrechte gegenüber der Mehrheit zu betonen und zu schützen, ihre Verbindung zu dieser Mehrheit. Sie spalteten, wo Zusammenhalt notwendig wäre. Die Linke habe damit die Seiten gewechselt, so Wagenknecht.
Die Auseinandersetzung in der Linken über einen solchen Befund ist unvermeidlich, daran ändert ein Ausschlussverfahren nichts. Der Konflikt ist ein grundlegender, weil sich aus ihm andere ableiten, etwa der um die Nation. Für Linksliberale ein reaktionäres Ding, weist Wagenknecht darauf hin, dass der Nationalstaat derzeit der einzige Ort ist, wo soziale Rechte durchgesetzt und verteidigt werden können.
Bis zur Bundestagswahl zumindest ist jeder Streit vertagt. Die Linke behilft sich in der Zwischenzeit mit Formelkompromissen. Beim Landesrat der Linken in NRW Anfang Juni, also Wagenknechts Landesverband, wehrte sich ein Teil der Mitglieder heftig gegen einen Initiativantrag, der die Willenserklärung des Vorstands und der Spitzenkandidatin Wagenknecht für den Wahlkampf zum Bundestag enthielt. Als dies misslang, wurde ein zusätzlicher Punkt abgestimmt und aufgenommen, der im Bekenntnis gipfelt: »Die Linke steht für offene Grenzen für alle Menschen in einem solidarischen Europa, das sich nicht abschottet.«
In ihrem Buch hat Wagenknecht freilich dargelegt, warum sie gegen eine ungeregelte Zuwanderung ist. Mit Argumenten, die kaum »rechts« genannt werden können, aber eine Auseinandersetzung provozieren, ja unvermeidlich machen. Nun wirbt die Linke in NRW samt ihrer Spitzenkandidatin für beide, unvereinbare Positionen. Der Landesrat vereinbarte immerhin, das Thema »Identitäts- versus Klassenpolitik« zum inhaltlichen Schwerpunkt zu machen – nach der Bundestagswahl. Mit Podiumsdiskussion und Generaldebatte.
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