- Politik
- Fehleinschätzung der Bundesregierung
Kommt nach der Wahl ein Afghanistan-Untersuchungsausschuss?
Politiker von Grünen, Linken, FDP fordern die Aufarbeitung des Desasters am Hindukusch - selbst die CSU zeigt sich offen dafür
Berlin. Die von der Bundesregierung bereits eingestandene Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan könnte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss nach sich ziehen. Politiker von Grünen, FDP und Linken behielten sich am Donnerstag die Einsetzung eines solchen Gremiums im Bundestag nach der Wahl am 26. September vor.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) haben für die Bundesregierung bereits eingestanden, dass sie vom Tempo der Machtübernahme durch die Taliban überrascht worden sind. Vor allem mit der mangelnden Bereitschaft der afghanischen Armee, ihr Land zu verteidigen, habe man nicht gerechnet, heißt es.
Die Opposition wirft der Regierung vor, die Ausreise der afghanischen Helfer von Bundeswehr und Bundesregierung verschleppt zu haben. »Es wäre absolut notwendig, dieses Riesendesaster und die unglaublich große Zahl von Fehlern aufzuarbeiten«, sagte der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour. Man wolle aber zunächst die für Mittwoch kommender Woche geplante Regierungserklärung Merkels abwarten.
Nouripour beklagte, dass Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) in den Sondersitzungen der Bundestagsausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung zentrale Fragen nicht beantwortet hätten. »Wäre das Ende der Legislaturperiode nicht schon in neun Wochen, hätten wir nach den nichtssagenden Auftritten
von Maas und Kramp-Karrenbauer den Antrag schon gestellt.«
FDP-Vize Wolfgang Kubicki rechnet nach der Bundestagswahl fest mit einem Untersuchungsausschuss. »Ich bin mir sicher: Den wird es geben«, sagte er in der Sendung »Frühstart« von RTL/ntv. Ulla Jelpke von der Linken sprach sich ebenfalls für ein solches Gremium aus, Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte sagte, man werde einen solchen
Schritt »in Erwägung ziehen«.
Der Linken-Außenpolitiker Gregor Gysi forderte im MDR die gesamte Regierung zum Rücktritt auf - sie solle bis zum Ende der Legislaturperiode nur noch geschäftsführend im Amt bleiben.
Widerstand im Tal der Unbeugsamen
Im nordostafghanischen Pandschir-Tal formiert sich eine Allianz gegen die Taliban
Die Rücktrittsforderungen gibt es bisher aber nur vereinzelt und nicht aus der ersten Reihe. Das liegt auch daran, dass eine Operation läuft, in der es um Leib um Leben geht - und um Zeit: Die Rettung tausender Menschen, die sich von den Taliban bedroht fühlen. »Wir sind mitten in einer Evakuierung und deswegen brauchen wir jetzt einen Außenminister, der das organisiert«, meint selbst Nouripour trotz aller Kritik an Maas.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich forderte dagegen, das Thema nicht zu parteipolitischen Zwecken zu missbrauchen. Er bedauere, »dass angesichts der dramatischen Situation einige nicht davon ablassen können, auf dem Rücken der Menschen, für die es um Leben und Tod geht, Wahlkampf zu treiben«.
Hungerstreik aus Sorge
Afghanen haben Angst um ihre Angehörigen und fordern ihre Aufnahme in Berlin
Selbst die CSU-Abgeordnete Andrea Lindholz zeigte sich dafür offen: »Sogar einen Untersuchungsausschuss will ich nicht für ausgeschlossen halten«, sagte die Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses. Dazu passt, das nun auch CSU-Chef Markus Söder die Bundesregierung angreift - und gleichzeitig Alarm schlägt, was die Umfragewerte der Union im Wahlkampf angeht. »Insgesamt gibt die Bundesregierung kein starkes Bild in dieser Situation ab«, sagte Söder nach einer Sitzung des CSU-Parteipräsidiums in München. »Das reicht nicht! Es reicht nicht, nur zu sagen: 'Sorry, wir haben uns verschätzt.'«
Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses reichen die Stimmen von 25
Prozent aller Abgeordneten aus. Das heißt, dass eine Zustimmung der Regierungsfraktionen nicht unbedingt notwendig ist.
Hier ist CNN live aus Kabul
Die Journalistin Clarissa Ward wird für ihre TV-Berichte aus Kabul kritisiert, weil sie dabei mit einem Kopftuch zu sehen ist.
Die Legislaturperiode endet spätestens am 26. Oktober, weil der neue Bundestag bis dann zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen muss - am 30. Tag nach der Wahl am 26. September. Theoretisch könnte ein Untersuchungsausschuss auch jetzt schon eingesetzt werden. Er hätte dann aber nur noch zwei Monate Zeit für Konstituierung, Zeugenbefragungen, Auswertung von Akten und die Erstellung eines
Abschlussberichts. Agenturen/nd
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.