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  • Politik
  • Ortskräfte in Afghanistan

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Das Patenschaftsnetzwerk legt offen, wie deutsche Regierungsinstitutionen mit afghanischen Menschen umgehen

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit vergangener Woche ist Marcus Grotian, Hauptmann der Bundeswehr, in vielen Talkshows und Medien präsent. Das von ihm mitgegründete Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte der Bundeswehr versucht, ehemaligen Mitarbeiter*innen, die aus Sicherheitsgründen Afghanistan verlassen mussten, bei der Ankunft in Deutschland zu unterstützen. Seit die Taliban vor etwas mehr als einer Woche Kabul eingenommen haben, wurde die Flucht immer dringender.

Die Youtube-Talkrunde mit dem früheren ARD-Journalisten Hans Jessen, in der Grotian sich zweieinhalb Stunden zum Thema äußerte, sahen innerhalb von vier Tagen mehr als 96 000 Menschen. Rekord für das Format des Teams von »Jung und Naiv«. Ein Grund für die hohen Klickzahlen: Grotian thematisiert die Praxis, mit der deutsche Ministerien Menschen in Afghanistan ausbeuteten.

Im Gespräch geht er von 7000 Ortskräften und ihren Familienangehörigen aus, die in Afghanistan zurückgelassen worden sind. Diese Zahl umfasst nur Menschen, die aufgrund eines direkten Arbeitsvertrages mit Bundeswehr, Auswärtigem Amt oder im Rahmen der Polizeimission mit dem Bundesinnenministerium beschäftigt waren. »In meinen Augen haben wir 80 Prozent zurückgelassen«, erklärt Grotian. Sie seien entweder politisch gewollt nicht antragsberechtigt gewesen oder wurden zwar nach dem 16. Juni zu Antragsberechtigten erklärt, konnten aber ihre Anträge nirgends vorbringen. Visabüros in Masar-e Scharif und Kabul waren durch die Bundesregierung medienwirksam angekündigt worden, wurden aber nie arbeitsbereit.

Grotian ist nicht der Einzige, der deutsche Regierungsinstitutionen warnte. In einer Onlineschalte der Grünen, die am Donnerstag ebenfalls mit ihm stattfand, thematisiert Andrea Thies den problematischen Umgang mit den jetzt zu rettenden Afghan*innen. Sie war Leiterin der Personalabteilung der EU-Polizeimission EUPOL in Afghanistan. »An der Mission haben allein 24 europäische Mitgliedstaaten teilgenommen«, macht Thies den Umfang des Versagens in Afghanistan klar. Auch Kanada, Norwegen und Neuseeland waren beteiligt. Sie wünscht sich eine Allianz dieser Länder, um die Zehntausenden Verbündeten aus Afghanistan auszufliegen. Mahnungen blieben jedoch auf der Brüsseler Regierungsebene ungehört.

Die Bundesregierung sorgte auch dadurch für eine weitere Verschärfung der Lage, weil sie seit Wochen Anträge auf Ausreise nur in der deutschen Botschaft in Afghanistan selbst zuließ. Das verleitete viele Afghan*innen dazu, in Kabul auszuharren, statt das Land in Richtung Pakistan zu verlassen. Auch Grotian und das Patenschaftsnetzwerk trugen dem Rechnung und betrieben bis zur Übernahme von Kabul Safehouses für die antragsberechtigten Afghan*innen. Diese Unterkünfte mussten jedoch aufgelöst werden, nachdem die Taliban damit begannen, systematisch nach ihren Gegner*innen zu suchen. »Die wurden Todesfallen«, sagt Grotian, der weiterhin mit Menschen in Kabul in Verbindung steht und die schwierige Rettung versucht, die kaum möglich scheint.

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»Wir kaufen den Menschen mit unseren Arbeitsverträgen die Menschenrechte ab«, sagt Marcus Grotian. Arbeitsverträge, die die Bundeswehr ausgegeben hat, waren nur in Deutsch rechtsgültig. Arbeitnehmer*innenrechte existierten nur pro forma.

Afghan*innen hätten vor einem Arbeitsgericht in Bonn diese Rechte einfordern müssen. Die Verträge wurden kurz gehalten, um Afghan*innen schnell kündigen und militärische Strukturen umgehend anpassen zu können. Eine Entlassung zum Monatsende war jederzeit möglich.

Dass es die Arbeit des Patenschaftsnetzwerkes gibt, ist auch dem ranghöchsten Soldaten der Bundeswehr, Generalinspekteur Eberhard Zorn, bekannt. Es gilt als einer der Schirmherren des Patenschaftsnetzwerkes. Was sich auf dem Papier und im Netz dann gut liest, äußerte sich nach Angaben von Grotian dann aber nur in einigen wenigen Telefonaten und Kontakten. »Schön, dass sie da sind, aber mit Ortskräften hat die Bundeswehr nichts zu tun«, berichtet Grotian aus dem Auftaktgespräch.

Die Aussage ist Ausdruck einer arbeitsteiligen Vorgehensweise der drei involvierten Ministerien, zu denen neben dem Verteidigungsministerium auch das Innen- und das Außenministerium gehören. Nicht wenige Journalist*innen, die in der Regierungspressekonferenz diesen Ministerien kritische Fragen stellen, sprechen mittlerweile von einer »organisierten Verantwortungslosigkeit«.

Auch Grotian nimmt dies so wahr. »Alle erzählen immer, wie schön die kleinen Rädchen drehen. Die eigenen Beiträge werden immer wundervoll ausgeschmückt und wie schön die sich drehen. Dass die aber nicht ineinandergreifen, das hat am Schluss dafür gesorgt, dass dieses Chaos jetzt entstanden ist.«

Selbst aufgenommene Ortskräfte erhalten ihre Aufenthaltsberechtigungen nur auf Zeit, sehr oft auch gebunden an einen konkreten Ort in Deutschland. Freizügigkeit, wie im Grundgesetz für Deutsche verankert, gibt es für die einst in Afghanistan unverzichtbaren Expert*innen nicht. Dass die deutsche Sprache zu den Bedingungen gehört, um dauerhaft im Land Fuß fassen zu dürfen, ist problematisch. In Afghanistan warb die Bundeswehr Personal an, das die beiden hauptsächlichen Landessprachen Dari und Pashtu beherrschen sollte und darüber hinaus Englischkenntnisse mitbringen musste.

Das war für viele Jobs ausreichend. Nur ein geringer Teil der Menschen hat Deutsch gelernt. Nach der Flucht nun das Erlernen einer vierten Sprache auf quasi muttersprachlichem Niveau abzuverlangen, ist nicht für alle leistbar. Der EU-Parlamentarier Sven Giegold (Grüne) findet die Beschreibungen der Arbeitspraxis abgründig und mahnt die baldige Aufarbeitung an. »Wo ist Ursula von der Leyen?«, fragt sich Giegold.

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