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Krieg und Spiele
Tim Focken wurde in Afghanistan schwer verletzt. Jetzt startet er bei den Paralympics in Tokio
Tim Focken zweifelt. Er hält es für keine gute Idee, noch einmal nach Afghanistan zurückzukehren, im Spätsommer 2010. Focken ist mit Leidenschaft Soldat, er identifiziert sich mit der Bundeswehr. Doch über die Jahre ist da etwas verloren gegangen. Focken hat Kameraden in Kampfeinsätzen verloren. Er will sich nicht mehr so oft in Lebensgefahr bringen, er hat ein kleines Kind, doch er will seine Kameraden auch nicht im Stich lassen. Diesen einen Einsatz, den traut er sich noch zu. Wenige Wochen später ist Tim Focken also wieder in Afghanistan. Er und andere Soldaten wollen eine Ortschaft einnehmen, aus der die Taliban regelmäßig Anschläge verüben. Sie geraten in ein Feuergefecht, sind umzingelt. Bei einem Stellungswechsel wird Focken angeschossen. Der erste Rettungshubschrauber muss abdrehen, zu gefährlich, beim zweiten Versuch hat er 50 Sekunden Zeit für den Einstieg. Seine Operation später dauert 17 Stunden.
Tim Focken wirkt nachdenklich, wenn er im Videointerview über seine Laufbahn in der Bundeswehr spricht. Er hatte meist Spaß an seinem Beruf gehabt, war durchtrainiert, ging gern laufen. Der Einsatz in Afghanistan 2010 verändert fast alles. »Meine ersten Gedanken waren zerstörerisch. Ich hatte Schuldgefühle gegenüber meinen Kameraden. Ich dachte, dass ich sie im Stich gelassen habe.« Seitdem muss er mit einer Oberarmplexuslähmung leben. Er kann seinen linken Arm nicht heben, hat oft Schmerzen im Rücken. In den ersten Monaten nach Afghanistan fühlt er sich nicht mehr als Soldat. Ein junger Mann von 26 Jahren ohne berufliche Zukunft, das glaubt er zumindest zu sein.
An diesem Dienstag beginnen in Tokio die Paralympics. Rund 4400 Athleten werden in 22 Sportarten unter Beweis stellen, zu welchen Leistungen und Rekorden Menschen mit Behinderung fähig sind. Mit dabei: der Sportschütze Tim Focken aus Oldenburg, als erster Bundeswehrsoldat, der im Kriegseinsatz verwundet wurde: »Durch den Sport habe ich wieder berufliche Zufriedenheit erlangt«, sagt er.
Die Bundeswehr gehört zu den wichtigsten Geldgebern olympischer Athleten, weil diese ohne staatliche Förderung im internationalen Vergleich kaum Chancen hätten. Die Sportler absolvieren eine militärische Grundausbildung, erhalten ansonsten aber ausreichend Zeit für Training und Wettkämpfe. Paralympische Athleten kamen in diesem Konzept lange nicht vor, denn sie galten wegen ihrer Behinderungen als ungeeignet für den Wehrdienst.
Das änderte sich 2011. Unter Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) etablierte die Bundeswehr das Projekt »Sporttherapie nach Einsatzschädigung«. An der Sportschule in Warendorf bei Münster erhalten verwundete oder traumatisierte Soldaten einen individuellen Plan für Training, Physiotherapie und Psychologie. »Auch ich habe mich in einer ausweglosen Situation gesehen«, sagt Focken, der 2011 nach Warendorf kam. »Aber durch den Sport habe ich meinen Körper wieder neu kennengelernt. Ich habe erfahren, wozu ich noch in der Lage bin.«
Damit folgt Focken einer Tradition. Die paralympische Bewegung fußt auf den Errungenschaften von Ludwig Guttmann. Der deutsch-jüdische Neurologe floh während des Zweiten Weltkrieges nach England. Im Krankenhaus der Kleinstadt Stoke Mandeville stellte er die Behandlung für Querschnittsgelähmte um: Sport soll ihr Immunsystem stärken und ihre Lebenserwartung erhöhen. 1948 organisierte Guttmann neben dem Krankenhaus einen Wettkampf im Bogenschießen und Tischtennis für Kriegsversehrte. Die Spiele von Stoke Mandeville begannen 1948 am selben Tag wie die Olympischen in London. 1960 mündete Guttmanns Idee dann in den ersten Paralympischen Spielen in Rom.
Rund 1,2 Milliarden Menschen leben weltweit mit einer Behinderung, acht Millionen in Deutschland. Die große Mehrheit erwirbt die Behinderung im Laufe des Lebens durch Unfälle, Krankheiten oder anderweitig bedingte Amputationen. Etliche Staaten legen aufwendige Sportprogramme für ihre verwundeten Soldaten auf: Großbritannien, Kanada oder Israel - doch eine besondere Bedeutung hat das Thema in den USA. Mehr als 15.000 ehemalige Militärangehörige sind dort mit einer Behinderung sportlich aktiv. Ihr Netzwerk mit Veteranenverbänden und dem Verteidigungsministerium wächst, auch durch ihre jährlichen »Warrior Games«.
Das Paralympische Komitee der USA geht davon aus, dass künftig bis zu 15 Prozent der US-amerikanischen Paralympier aus Soldatenprogrammen kommen werden. Mehrfach trugen ehemalige Soldaten die US-Fahne bei den Eröffnungsfeiern der Paralympics, zum Beispiel Heath Calhoun bei den Winterspielen 2010 in Vancouver. Calhoun stammt aus Tennessee. Nach einem Gefecht im Irak hatten ihm beide Unterschenkel amputiert werden müssen. Calhoun trainierte danach hart, setzte sich bald auf einen Monoski und raste einen Abhang hinunter. Er sammelt Spenden, trifft Politiker, setzt sich für Veteranen ein.
Die Bewegung beginnt, auch in Europa zu wachsen. 2013 nimmt Prinz Harry mit britischen Soldaten an den Warrior Games in Colorado Springs teil. Danach setzt er sich daheim für eine vergleichbare Veranstaltung in der britischen Hauptstadt ein. An der Premiere 2014 in London nehmen 300 Sportler aus 13 Ländern teil. Die meisten von ihnen wurden als Soldaten in Afghanistan verwundet. Titel der Veranstaltung: Invictus Games. Diese Spiele der »Unbesiegbaren« sollen 2023 erstmals in Deutschland Station machen, in Düsseldorf.
Hierzulande ist eine solche Verehrung von Kriegsveteranen mit der Geschichte nicht vereinbar. Auch Tim Focken wählt keine pathetischen Worte für das große Ganze, bleibt lieber bei seiner Biografie. Er hat die schnelle Machtübernahme der Taliban in Afghanistan mit Entsetzen wahrgenommen. Waren seine Einsätze und Opfer nun umsonst? Nein, das kommt ihm nicht über die Lippen. Focken möchte die negativen Nachrichten nicht zu sehr an sich heranlassen. Lieber will er mit einer Medaille in Japan auch die Bundeswehr in ein positiveres Licht rücken. Und er will zeigen, wie man den Krieg auch verarbeiten kann.
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