- Politik
- Corona in Sydney
Die gespaltene Stadt
In Sydney grassiert die Corona-Epidemie vor allem in den ärmeren Bezirken, die rigoros abgeschottet werden
Um 19 Uhr am Abend ruft Steve Christou zurück. Der Bürgermeister von Cumberland, eine der Regionen Sydneys, in der die Coronainfektionen in den vergangenen Wochen explodiert sind, arbeitet fast rund um die Uhr. »Hier ist es gerade hart«, gesteht er. Cumberland ist eines der ärmsten Viertel der Stadt und kann sich einen strengen Lockdown, der derzeit in Sydney herrscht, eigentlich nicht leisten. Fünf Kilometer sollen sich die Menschen maximal von ihrem Zuhause entfernen, die Geschäfte sind bis auf alles Lebenswichtige geschlossen; die Kinder werden online unterrichtet. »Manche Gegenden fühlen sich wie eine Geisterstadt an«, sagt er. Kaum jemand sei draußen, dafür patrouilliere die Polizei in den Straßen. Auch das Militär ist unterwegs. Das sei eine gute Sache, meint Christou. Die Soldaten kämen zur Hilfe, wenn es notwendig sei. Viele Familien hätten mittlerweile Existenzängste, weil sie ihr Einkommen verloren haben und die Miete nicht mehr zahlen könnten. Etliche haben inzwischen Probleme, täglich Essen auf den Tisch zu bringen. »Wir fahren inzwischen Boxen mit Lebensmitteln herum und verteilen sie an die Haushalte«, schildert Christou die Lage.
Drakonische Strafen
Cumberland ist nur eine der besonders schlimm betroffenen Regionen im Westen von Sydney, in denen sich das Coronavirus nach wie vor rasant ausbreitet. Denn obwohl die Ausgangssperre inzwischen über acht Wochen andauert, klettert die Zahl der täglichen Neuinfektionen stetig höher. Inzwischen verzeichnet der Bundesstaat New South Wales, in dem Sydney liegt, mehr als 12 000 aktive Infektionen der Delta-Variante. Auch die Todesfälle mehren sich.
Viele Bürger sind aber müde von den Einschränkungen. Erst am Wochenende kam es bei Protesten in Sydney, Melbourne und Brisbane zu teils schweren Zusammenstößen mit der Polizei. In Melbourne wurden mehr als 200 Menschen festgenommen, die gegen die Corona-Beschränkungen demonstrierten.
Nachdem der Lockdown bisher nicht die erwartete Wirkung zeigt, greift die Polizei vor allem in den schwer betroffenen Stadtteilen nun hart durch und verteilt selbst bei kleineren Vergehen hohe Strafen. »Ich habe heute mit einem Mann gesprochen, der nach dem Tanken vergessen hat, beim Betreten der Tankstelle den QR-Code zu scannen«, berichtete Christou. Ein Polizist, der zufällig in der Tankstelle war, habe ihm daraufhin sofort eine Strafe über 1000 Australische Dollar, umgerechnet über 600 Euro, gegeben. »Das finde ich ein beunruhigendes Element«, meint der Lokalpolitiker.
Mit der freundlichen multikulturellen Stadt, die in den Touristenbroschüren präsentiert wird, hat dieses Sydney derzeit wenig Ähnlichkeit. Die Stadt ist, wie viele andere Metropolen auch, gespalten: zwischen den Wohlhabenden, die vor allem im Osten und Norden der Stadt leben, und den weniger Privilegierten im Westen, wo derzeit die Delta-Variante wütet. Die Kluft zwischen den sozialen Schichten reißt wieder auf. Im Westen wohnen viele Indigene, Geflüchtete, arabisch-stämmige Familien und Menschen aus der Pazifikregion, von denen viele den weniger lukrativen Jobs der Stadt nachgehen. Inzwischen mehren sich die Stimmen jener, denen es missfällt, wie die Stadt mit diesen niedrigeren sozialen Schichten umgeht. Medien berichteten bereits über mehrere Fälle, in denen sich Bürger aus dem Westen der Stadt von der Polizei bedrängt fühlten.
So erzählte Malaz Majanni, dessen ganze Familie an Covid-19 erkrankt ist, im Interview mit dem »Guardian«, dass die Polizei seit der Diagnose jeden Tag an seine Tür geklopft habe. Damit solle überprüft werden, ob die Familie auch wirklich zu Hause ist. Das Gesundheitsamt habe sich dagegen nur einmal gemeldet. Der Familienvater berichtete, wie die Polizei bei einem ihrer ersten Besuche verlangt habe, ihn an der Tür zu sehen, um »langatmige Fragen« zu stellen, woraufhin er zusammengebrochen sei, weil er zu dem Zeitpunkt schwer krank gewesen sei. »Ich habe jeden Morgen Angst vor dem Polizeibesuch«, sagte er. »Was ist, wenn ich ihn verpasse?«
Auch Muhamod Tissini, ein Handwerker in der besonders schlimm betroffenen Region im Westen der Stadt, beschrieb gegenüber dem »Guardian«, wie die Polizeipräsenz den Menschen Angst und Unbehagen bereite. »Ich fühle mich unwohl, ich fühle mich wie in einem Polizeistaat«, sagte er. »Und jetzt, mit der offensichtlich verstärkten Präsenz des Militärs, fühlt man sich einfach nicht mehr wie in Australien. Man fühlt sich wie in einer Art Diktatur.«
Wegen der Restriktionen und des Einsatzes des Militärs gebe es in den südwestlichen Vororten inzwischen »ein Klassenproblem«, erklärte Hanan Dover, eine Psychologin aus der Region, gegenüber dem Sender ABC. »Denn gleichzeitig sehen wir in den sozialen Medien, wie Bewohner der östlichen Vororte ohne Masken und ohne soziale Distanzierung in der Öffentlichkeit herumgehen«, sagte sie.
Tony Burke, ein Sozialdemokrat und Oppositionspolitiker, dessen Wahlkreis im Westen der Stadt liegt, kann die wachsende Frustration der dortigen Bürger bestätigen. Bei ihm in der Gegend würden Polizei und Soldaten patrouillieren, meinte er gegenüber ABC, während sie zur gleichen Zeit Bilder von Leuten sehen, »die am Bondi Beach scheinbar alles tun, was sie nur wollen«. Steve Christou ist ebenfalls wütend, dass seine Bürger in Cumberland so streng behandelt werden, während die Menschen im Osten - wo die Corona-Epidemie einst ausgebrochen ist - ihr Leben weitgehend normal weiterführen können. »Es sollte einen einheitlichen Ansatz und Standardregeln für alle geben«, meinte er. »So ist das unfair.«
Tatsächlich könnten die Unterschiede nicht drastischer sein: Während in den beliebten Vororten in Bondi oder in Manly sich die wohlhabenden Sydneysider am Strand vergnügen und man in den Stadtteilforen auf Facebook über das beste »Takeaway-Essen« debattiert, sind im Westen der Stadt teils ganze Apartmentgebäude abgesperrt. Hier kommt es täglich zu Hunderten von neuen Infektionen, während Manly beispielsweise gerade einmal vier Fälle in den vergangenen zwei Wochen registrierte. Auch Bondi hat den dortigen Ausbruch längst wieder unter Kontrolle gebracht und verzeichnete in den letzten 14 Tagen nur noch zehn aktive Fälle.
Wut über Doppelmoral
Laut Burke ist daran aber nicht das Verhalten der Menschen im Westen der Stadt schuld, sondern vielmehr deren prekäre Arbeitsverhältnisse, die es kaum ermöglichten, in die soziale Distanz zu gehen. »Wir haben nicht so viele Leute, die ihre Arbeit zu Hause von einem Laptop aus erledigen können«, erzählte er über die Menschen in seinem Viertel. Sie arbeiteten als Fahrer, in der Logistikbranche oder in der Altenpflege. Viele Leute hätten mehrere Jobs und würden in großen Haushalten leben. Oft gebe es mehr Menschen als Räume im Haus. Deswegen seien viele im Westen der Stadt inzwischen auch wütend angesichts der »Doppelmoral«, die in der Stadt herrsche.
Gespalten ist aber nicht nur Sydney: Auch der Westen und der Osten von Australien stehen sich in der Pandemiebekämpfung konträr gegenüber. Während große Teile der Ostküste im Lockdown sind, geht Westaustraliens Premier Mark McGowan in Opposition zum Rest des Landes. In einem Interview mit dem Sender Sky News sagte er diese Woche, er werde in seinem derzeit Corona-freien Bundesstaat auch weiterhin eine Zero-Covid-Strategie verfolgen - selbst wenn eine Impfquote von 80 Prozent erreicht sei. Damit würde er Westaustralien faktisch vom Rest des Landes isolieren. Denn Australiens Premierminister Scott Morrison hat versprochen, dass Australien sich wieder öffnen und mit der Epidemie leben werde, sobald 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung geimpft seien.
»Eigentlich sollten wir ein Commonwealth of Australia sein«, kritisierte auch Steve Christou und meint damit, dass die einzelnen Bundesstaaten und Territorien in Australien zusammenhalten und vor allem zusammenarbeiten sollten. Doch stattdessen würden die einzelnen Bundesstaaten sich so verhalten, als seien sie unterschiedliche Länder. »Viele der Ministerpräsidenten sind politische Spieler«, beschwert er sich. Als New South Wales wegen des Covid-Ausbruchs beispielsweise dringend mehr Biontech/Pfizer-Impfdosen gebraucht hätte, hätten die anderen Staaten dies abgelehnt und ihre Vorräte nicht geteilt. Im schlimmsten Fall könnte so ein Verhalten sogar Menschenleben kosten, so der Bürgermeister.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.