Ein Anarchist gegen die Bolschewiki

Nestor Machno und seine Bewegung kämpften im Russischen Bürgerkrieg gegen die Rote Armee. Vor 100 Jahren floh er ins Exil

  • Ralf Höller
  • Lesedauer: 8 Min.

Der Mann, der am 16. März 1934 in das Pariser Armenhospital Tenon eingeliefert wurde, sah viel älter aus als die vierundvierzig Jahre, die in seinem Pass angegeben waren. Er stammte aus der Ukraine, sprach nur schlecht Französisch, war völlig mittellos und litt an Tuberkulose im Endstadium. Freunde hatte er keine. Besuch erhielt er nur von seiner Frau und seiner Tochter. Zweimal wurde er an der Lunge operiert, doch konnten ihm die Ärzte nicht mehr helfen. Frühmorgens am 25. Juli schloss er für immer die Augen. Seine sterblichen Überreste wurden zum nahe gelegenen Friedhof Père Lachaise gebracht und dort verbrannt.

Bei seiner Beerdigung stellte sich heraus, dass Nestor Machno doch nicht ganz in Vergessenheit geraten war. Mehr als vierhundert Trauergäste, darunter viele russische Exilanten und führende Anarchisten aus Frankreich, Spanien und Italien, gaben ihm das letzte Geleit. Auch einige Pariser Zeitungen, an erster Stelle das KP-Organ »L’Humanité«, veröffentlichten ausführliche Nachrufe. Ganz und gar ungewöhnlich war die Würdigung des Verstorbenen im Mitteilungsblatt des französischen Außenministeriums »Le Temps«. Dessen Moskauer Korrespondent Pierre Berland schrieb über den Toten:

»Gewiss hatten an der Niederlage Denikins [und der konterrevolutionären Weißgardisten im Russischen Bürgerkrieg] die aufständischen Bauern unter Machnos schwarzer Fahne größeren Anteil als Trotzkis reguläre Armee. Machnos Partisanen sorgten letztendlich dafür, dass das Pendel zugunsten der Roten ausschlug. Auch wenn Moskau diese Tatsache heute sorgfältig verschweigt, wird die unvoreingenommene Geschichtsschreibung sie in Erinnerung behalten«. Die Machnobewegung (Machnowstschina) in der Ukraine kämpfte für eine Selbstbefreiung von Unterdrückung und erfolgreich gegen ausbeuterische Großgrundbesitzer, deutsche und österreichische Besatzungstruppen, ukrainische Nationalisten wie ›weiße‹ Konterrevolutionäre. Nur gegen ihren letzten Gegner konnten die Anarchisten nichts ausrichten: die Bolschewiki.

Lange waren die Streiter unter der schwarzen und der roten Fahne Verbündete; vor allem, als es galt, sich gegen einen gemeinsamen Feind zu positionieren. Darüber, was geschehen würde, nachdem dieser besiegt worden war, machten sich die Anarchisten keine Illusion. Einer von ihnen, Wsewolod Eichenbaum, als späterer Mitkämpfer Machnos unter dem Decknamen Voline bekannt, hatte Leo Trotzki bereits 1917 im New Yorker Exil kennengelernt und auf die mögliche Zukunft angesprochen: Er sei sich völlig sicher, dass Trotzkis Genossen »schließlich in Russland die Macht an sich reißen« würden. »Und dann: Wehe uns Anarchisten! Sobald eure Herrschaft gefestigt sein wird, werdet ihr uns zu verfolgen beginnen, und schließlich werdet ihr uns wie die Rebhühner abknallen.« Trotzki beschwichtigte: »Was trennt uns denn im Augenblick eigentlich? Eine kleine Frage der Methode, die völlig nebensächlich ist. Ihr seid genau wie wir revolutionär; wir sind genau wie ihr schließlich und endlich Anarchisten. Nur wollt ihr eure Anarchie sofort ohne Vorbereitung und Übergang errichten, während wir Marxisten glauben, dass es nicht möglich ist, mit einem Satz ins libertäre Reich hinüberzuspringen.«

Ein entrüsteter Trotzki wies Volines Annahme, »Sozialisten würden rohe Gewalt gegen die Anarchisten anwenden«, als »Absurdität« zurück. Voline, später einer der Geschichtsschreiber der Machnobewegung, war nicht überzeugt. Dies lag vor allem am Alleinvertretungsanspruch von Dogmatikern wie Trotzki oder Lenin an der Revolution. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Trotzki sich brüstete (und Voline ihn zitierte), dass »die Sowjetmacht Russland mit eisernem Besen vom Anarchismus« befreien würde.

Bis es so weit war, konnte die Machnobewegung, wenn auch nur für kurze Zeit, einige ihrer Ideen in die Realität umsetzen: In den von ihr zeitweise beherrschten südukrainischen Gebieten verwalteten Räte, die keiner Zentralgewalt unterstanden, die Gemeinden; der Ackerboden wurde nach Enteignung und Vertreibung der Großgrundbesitzer an die landlose Bauernschaft neu verteilt; die Bevölkerung kam in den Genuss umfassender und vorher nicht gekannter Rechte (Rede-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit); die Pressezensur wurde aufgehoben, die staatliche Polizei abgeschafft, Gefängnisse wurden aufgelöst und selbstverwaltete Bildungseinrichtungen geschaffen.

Machno, geboren im südukrainischen Huljajpole zwischen Dnjepr, Donbas und Asowschem Meer, hatte bereits als Fünfzehnjähriger am 1905er Aufstand teilgenommen und war mit revolutionären Ideen in Berührung gekommen. Später brachte ihm sein politisches Engagement eine langjährige Haftstrafe im Moskauer Butyrka-Gefängnis ein. Dort zog er sich die Tuberkulose zu, an der er im Pariser Exil zugrunde gehen sollte. Dort lernte er aber auch, durch den Kontakt mit inhaftierten Anarchisten, die Ideen Pjotr Kropotkins kennen, las dessen Schriften über Selbstverwaltung in Landwirtschaft und Industrie und auch Kropotkins Hauptwerk über gegenseitige Hilfe.

Die Revolution fand Machno in seinem Heimatdorf wieder. In Huljajpole erlebte er die vielen Volten in der Ukraine, als Nationalisten wie Symon Petljura und der Kosakenhetman Pawlo Skoropadskyj oder die antikommunistischen Generäle Anton Denikin und Pjotr Wrangel vorübergehend die Macht übernahmen. Ihnen allen leistete seine Bewegung erbitterten Gegenstand. Während die untereinander zerstrittenen reaktionären Politiker und Befehlshaber einander ablösten, behaupteten sich Machnows Kämpfer, zeitweise unterstützt von den Bolschewiki, und blieben. Dabei profitierten sie auch von der Schwäche der Leo Trotzki unterstellten Roten Armee, die an anderen Stellen im Sowjetreich permanent attackiert wurde.

Nach der Aufgabe des letzten weißen Kommandeurs Wrangel kontrollierte die Machnowstschina fast die komplette Südukraine, ein Gebiet von 70 000 Quadratkilometern, in dem über sieben Millionen Menschen lebten. Ende November 1920 wandte sich General Michail Frunse, als Kommandeur der Südfront Trotzkis verlängerter Arm, mit einer Anweisung an Machno, dessen Partisanenarmee aufzulösen und alle Soldaten der Roten Armee zur Verfügung zu stellen. Bereits nach der Niederlage Denikins hatte Trotzki von Machno gefordert, ein Kontingent für den Kampf an der polnischen Front abzustellen. Machno lehnte ab, seine Leute würden in der Heimat gebraucht.

Unterstützung bekam Trotzki von allerhöchster Stelle, sobald die Gefahr durch Konterrevolutionäre und Weißgardisten nicht mehr drohte. Mit einem Telegramm aus Moskau eröffneten die Bolschewiki eine neue Front: »Zahl der Anarchisten Ukraine feststellen, besonders Machno-Gegend«. Als Absender zeichnete Lenin persönlich. Einige Tage darauf folgte ein zweites Telegramm: »Alle Anarchisten streng überwachen. Möglichst viele Dokumente von kriminellem Charakter, nach denen sich Anklage erheben lässt, vorbereiten. Befehle und Dokumente bereithalten, notwendige Anweisungen überallhin schicken. - Lenin«. In einem dritten Schreiben hieß es schlicht: »Alle Anarchisten verhaften und anklagen. - Lenin«

In den folgenden Monaten landeten zahlreiche Anarchisten in Gefängnissen oder vor Exekutionskomitees. Den wenigsten von ihnen wurde ein ordentlicher Prozess gewährt. Die Todesurteile erfolgten nach Standrecht, zur sofortigen Vollstreckung. Auch Frunses Befehl widersprach eindeutig der militärischen Autonomie, die Trotzki den Angehörigen der Machnoarmee in den Kämpfen zuvor zugesichert und vertraglich fixiert hatte. Machno berief sich auf diese Garantie und weigerte sich, seine Truppe aufzulösen.

Daraufhin ließ Trotzki die Rote Armee gegen die Machnowstschina vorrücken. Für die Anarchisten, an den Partisanenkrieg gewöhnt, stellte dies zunächst kein Problem dar. Sie operierten mobil, meist in der Nacht und in kleinen Einheiten und wechselten ständig ihre Quartiere. Immer wieder gelangen Überfälle auf Frunses Heer. Machno selber wurde per Haftbefehl gesucht, doch gelang es weder, ihn festzusetzen, noch fand sich jemand bereit, den Partisanenführer zu denunzieren.

Das letzte ukrainische Kapitel im Bürgerkrieg zog sich über ein Dreivierteljahr hin. Allmählich schwanden die Kräfte der Anarchisten. Machno war, anders als Frunse, nicht in der Lage, nach Verlusten seine Reihen mit frischen Kräften aufzufüllen. Am Ende waren die Partisanen von ihrer Heimatregion um Huljajpole isoliert und in die Steppenregion im Grenzgebiet zu Rumänien abgedrängt. Machno wurde mehrfach verwundet und musste in einem Karren transportiert werden. Dann traf ihn eine Kugel am Hinterkopf und fuhr zur rechten Backe wieder heraus. Auch diesmal überlebte Machno, war aber endgültig invalid und zu keiner Kampfhandlung mehr fähig.

Mit seinen letzten Getreuen, deren Zahl auf wenige Hundert geschrumpft war, setzte er in Fischerbooten über den Dnister ans rettende rumänische Ufer. Unter den Davongekommenen befand sich auch Machnos Ehefrau Galina. In den frühen Morgenstunden des 28. August 1921 stellten sich, im heute zu Moldawien gehörenden Städtchen Vadul lui Vodă, die Reste der einst stolzen Machnoarmee den rumänischen Behörden.

In Rumänien wurden Machno und seine Begleiter in einer mittelalterlichen Zitadelle im siebenbürgischen Brasov interniert. Die Bolschewiki verlangten von der Bukarester Regierung ihre Ausweisung. Diese lehnte ab, da mit der Sowjetunion kein Auslieferungsabkommen bestand. Gleichzeitig drängte sie die Partisanen, das Land zu verlassen.

Im April 1922 begab sich Machno nach Polen. Auch dort wurde er interniert, später sogar wegen angeblicher konspirativer Tätigkeit verhaftet und in ein Warschauer Gefängnis gesteckt. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Eine Weile blieb er noch in Polen, dann ging er nach Danzig, das im Versailler Vertrag den Status einer Freien Stadt erhalten hatte und unter dem Schutz des Völkerbundes stand.

In Danzig weigerte sich sowohl der deutsche als auch der französische Konsul, Machno ein Visum auszustellen. Erst durch die Hilfe einflussreicher Freunde, darunter Voline, der seit dem Untergang der Machnowstschina in Berlin lebte, gelang ihm die Ausreise in die deutsche Hauptstadt. Nach drei Monaten zog Machno nach Paris weiter, der letzten Station seines Lebens.

Die Jahre im Pariser Exil waren von Krankheit und permanenten Geldsorgen geprägt. Machno lebte von den Spenden französischer und spanischer Anarchisten. Der vergessene Held längst vergangener Tage wurde zunehmend verbittert. Seine zahlreichen Kriegswunden verheilten nicht, seine Tuberkulose verschlimmerte sich. Er verfiel immer stärker dem Alkohol und überwarf sich mit seinen Freunden; zuletzt mit Voline, der inzwischen ebenfalls in Paris lebte.

Eine Landschaft voller Weisheiten. Geistesgeschichte als Geistergeschichte: »Der Himmel vor hundert Jahren« von Yulia Marfutova

Bleibt die Frage, ob Machno seine anarchistischen Ideale außerhalb der Sowjetdiktatur hätte umsetzen können. Spekulieren ist nicht Aufgabe des Historikers. Es gab jedoch Anzeichen, die das eher verklärende Bild einer unabhängigen Arbeiter- und Bauernrepublik in der Südukraine eintrüben. Der Machnos Anhängern häufig vorgeworfene Antisemitismus ist kaum durch Dokumente belegt, war aber vermutlich weniger stark ausgeprägt als bei den übrigen, vor allem weißen Bürgerkriegsparteien. Dies entschuldigt freilich nichts. Ebenso wenig die verbürgten Übergriffe gegen mennonitische Siedlungen: Der kanadische Historiker Peter Letkemann etwa schätzt, dass im Kriegsjahr 1919 zwei von drei mennonitischen Ziviltoten Opfer von Machnos Truppen waren.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!