• Kommentare
  • "Die Selbstgerechten" von Sahra Wagenknecht

Post für Sahra

Solange Wagenknecht ihre Thesen unter dem Dach der Linken verbreiten darf, ist die Partei für Marginalisierte unwählbar, meint Sibel Schick.

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Sehr geehrte Frau Wagenknecht,

die Bundestagswahl rückt näher. Viele Menschen wissen noch nicht, wo sie ihr Kreuz machen sollen. Vor allem Marginalisierte.

Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«.

Sie denken wahrscheinlich, dass Menschen, die von Rassismus betroffen sind, oder trans Personen die Linke wählen sollten. Jedoch machen Ihre Thesen in dem Buch »Die Selbstgerechten« und deren Unterstützung in Teilen der Partei das für viele unmöglich. Eine linke Politik muss nämlich vor allem die verwundbarsten Gruppen einer Gesellschaft schützen – jene, die ohnehin begrenzte Wahloptionen haben. Dazu zählen nicht nur prekär Beschäftigte und Arbeitslose, sondern eben auch Marginalisierte. Sie, Frau Wagenknecht, haben mit Ihren Thesen diese Selbstverständlichkeit in Frage gestellt.

Sie schrieben in dem Buch über eine Gruppe, die Sie als »Lifestyle-Linke« bezeichnen. Zuerst entsteht der Eindruck, dass Sie die Mehrheitsgesellschaft kritisierten. Aber wenn man genau liest, erkennt man, dass Sie mit Minderheiten abrechnen. Ihre Dämonisierung ist der rote Faden, der sich durch das Buch zieht.

Lesen Sie auch zum Thema: Zerreißprobe mit Luftanhalten - In der Linken schwelt der Streit um das neue Buch Sahra Wagenknechts weiter von Uwe Kalbe

Kostprobe gefällig? Sie sprechen von einer deutschen Grenzöffnung 2015 und verleugnen strukturellen Rassismus in der Polizei. Sie stellen Verachtung gegen Minderheiten als Strukturkritik dar und relativieren ihre Probleme, indem Sie behaupten, »echte« Diskriminierung sei nur die von Armen. Warum sollen Marginalisierte Ihre Partei noch wählen, solange Sie diese gewaltvollen Thesen noch unter dem Dach der Linken verbreiten können?

Die Ebenen, auf denen Sie Minderheiten verteufeln, sind vielfältig. Beispielsweise behaupten Sie, die Wirkung emanzipatorischer Bewegungen von Marginalisierten sei mit der Französischen Revolution und dem Christentum gleichzusetzen. Sie überhöhen dadurch nicht nur die Wirkung ersterer maßlos, sondern konstruieren auch eine Bedrohung, die angeblich von ihnen ausgehe.

Auch bei Frauen nehmen Sie stets nur die Mehrheitsgruppe in Schutz. Sie verteidigen die Autorin J.K. Rowling, die seit Jahren durch Transfeindlichkeit auffällt. Sie behaupten, man habe sie gecancelt, weil sie an biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen festhält. An anderer Stelle schreiben Sie, Frau Wagenknecht, dass diese Unterschiede zu benennen zu einem Akt diskursiver Machtausübung erklärt worden sei. In Ihrem Buch widersprechen Sie sich: »Früher hatten Emanzipationskämpfe immer das Ziel, Unterschiede, die auf Geburt und Herkunft zurückzuführen sind, (…) bedeutungslos zu machen. Die Identitätspolitik dagegen bläst solche Unterschiede zu bombastischen Trennlinien auf (…).« Was gilt denn jetzt? Wird die Benennung der Unterschiede zu diskursiver Machtausübung erklärt, oder werden Unterschiede zu »bombastischen Trennlinien« aufgeblasen?

Sie bleiben konsequent in Ihrer Inkonsequenz und schreiben, dass die Identitätspolitik Menschen nach Geschlecht, Abstammung und Orientierung in unterschiedliche Schubladen sortieren würde. Sie zeichnen ein verzerrtes Bild der Lage: Nicht die Schubladen sind wegen der Identitätspolitik entstanden, sondern die Identitätspolitik ist entstanden, weil es diese Schubladen gibt. Für manche grenzt Ihre Darstellung deshalb an Geschichtsrevisionismus.

Sie behaupten weiter, dass marginalisierte Menschen der Grund dafür seien, dass die Linken heutzutage den Klassenbegriff aus ihrem Wortschatz verbannt haben. Das größte Versäumnis linker Parteien schreiben Sie, Frau Wagenknecht, jenen Menschen zu, die überproportional unter Armut leiden. Ebenso behaupten Sie, dass Deutsche rechts wählten, weil wir nicht über Klasse sprechen. Dieselbe Gruppe machen Sie also auch für den gesellschaftlichen Rechtsruck und Faschist*innen in deutschen Parlamenten verantwortlich, dabei ist sie direkt von rechter Gewalt betroffen. Diese Schuldumkehr ist unmenschlich und unverzeihlich.

Liebe Frau Wagenknecht, solange Sie und Spitzenfunktionäre Ihrer Partei sich von diesen menschenverachtenden Thesen nicht distanzieren, werden viele Marginalisierte die Linke nicht wählen können. Das nennt man aber nicht Cancel Culture: So verhalten sich Menschen in einer Demokratie.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.