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Günstige Besserung!
Das Gesundheitssystem steht vor großen finanziellen Herausforderungen. Vorerst wurde das Problem vertagt
Gesundheit ist teuer. Kritiker sprechen lieber von der Krankheitsindustrie, »die uns teuer zu stehen kommt«. Das eine wie das andere ist uns über 400 Milliarden Euro im Jahr wert. Der Anteil der »Gesundheitsausgaben« beträgt mittlerweile rund zwölf Prozent der gesamten wirtschaftlichen Leistung (BIP). Damit belegt Deutschland international einen Spitzenplatz. Gab jeder Bundesbürger statistisch betrachtet in den neunziger Jahren 2000 Euro für seine Gesundheit aus, sind es heute 5000 Euro. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP stieg damit von 9,4 auf rund zwölf Prozent. Tendenz weiter steigend.
Dafür gibt es viele Gründe. Da ist der demografische Wandel. Mehr ältere Menschen bedeuten höhere medizinische Kosten, da Ältere häufiger und schwerer erkranken als Jüngere. Wer heute geboren wird, kann im OECD-Durchschnitt damit rechnen, etwa 81 Jahre alt zu werden. Einerseits. Anderseits hat sich der Anstieg der Lebenserwartung in den meisten Staaten in jüngster Zeit verlangsamt. Teilweise ist sie sogar gesunken, etwa in den USA, Frankreich und den Niederlanden, wie die Industriestaatenorganisation ermittelte. 2015 war ein besonders schlechtes Jahr: Die Lebenserwartung ging in 19 Ländern zurück.
Gründe für steigende Ausgaben
Dahinter stehen Trends, die ebenfalls die Kosten für das Krankheitssystem erhöhen. »Rauchen, Alkoholkonsum und Fettleibigkeit führen weiterhin zu frühzeitigen Todesfällen und wirken sich negativ auf die Lebensqualität aus.« Und die Luftverschmutzung ist im OECD-Durchschnitt für etwa 40 Todesfälle je 100 000 Einwohner verantwortlich. In deutschen Großstädten dürfte es vor allem Feinstaubbelastung durch den Verkehr sein, etwa der gefährliche Abrieb von Autoreifen, der Menschen gefährdet.
Dazu kommen systemimmanente Kostentreiber. Die Patientensicherheit hat sich nach vielen Indikatoren zwar verbessert, so die OECD. Dennoch zogen sich beispielsweise fünf Prozent aller stationär behandelten Patienten eine Krankenhausinfektion zu. Besonders kostspielig ist die Hyper-Technisierung der Medizin. Während ein klassisches Röntgengerät nach Preisauskünften im Internet etwa 100 000 Euro kostet, muss für ein einfaches Gerät zur Magnetresonanztomographie (MRT) mindestens eine Million hingeblättert werden. Auch die Pharmaindustrie gilt als Kostentreiber. 2020 wurden in Deutschland Pharmazeutika, großteils für den Export, für 32 Milliarden Euro produziert. Seit dem Jahr 2000 wurde der Umsatz ständig gesteigert, meldet der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA).
Obwohl es auch gegenläufige Tendenzen gibt, etwa kürzere Aufenthaltsdauer in Krankenhäusern, wird Gesundheit immer teurer. Das Wachstum der Ausgaben dafür überstieg in der Vergangenheit deutlich das Wirtschaftswachstum. Dies wird voraussichtlich auch in Zukunft der Fall sein. Neuen Schätzungen zufolge werden die Gesundheitsausgaben im OECD-Durchschnitt bis 2030 auf 10,2 Prozent des BIP ansteigen, von 8,8 Prozent im Jahr 2018.
Dies wirft Fragen in Bezug auf die finanzielle Tragfähigkeit der Gesundheitsversorgung auf. In Deutschland übernehmen die Krankenkassen, die 90 Prozent der Bürger versichern, den Großteil der Kosten. Doch allein die AOK rechnet für 2021 mit einem Fehlbetrag von rund vier Milliarden Euro.
Die Corona-Pandemie hat zwar paradoxerweise für eine zeitweilige finanzielle Entlastung gesorgt, etwa weil weniger Behandlungen in Krankenhäusern stattfanden und weniger Bagatellmedikamente verabreicht wurden. Doch seither wird es wieder richtig teuer: »Eine Normalisierung des Leistungsgeschehens führt im isolierten zweiten Quartal 2021 zu teils zweistelligen Veränderungsraten nach oben«, berichtet der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Jens Hoyer. Der GKV-Spitzenverband erwartet für das kommende Jahr eine Finanzierungslücke von 18 Milliarden Euro.
Der GKV-Spitzenverband ist die zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Deutschland. Die Mitglieder der Krankenkassen und die Unternehmen zahlen Beiträge in den »Gesundheitsfonds«. Die Höhe der Beiträge wird im Wesentlichen von der Politik bestimmt. Der Bund schießt zudem Geld in den Fonds zu. Insgesamt fließen so in diesem Jahr etwa 275 Milliarden Euro, mit denen das deutsche Gesundheitswesen weitgehend finanziert wird.
Im Mai einigten sich Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und das Bundesgesundheitsministerium darauf, im nächsten Jahr sieben Milliarden Euro zusätzlich zu den festgeschriebenen 14,5 Millionen einzuzahlen. Unterm Strich bliebe dann 2022 eine Finanzierungslücke von mehr als zehn Milliarden Euro bestehen. Die könnte möglicherweise noch aus Reserven geschlossen werden, die die Krankenkassen während der langen Hochkonjunktur vor 2019 gebildet haben.
SPD, Grüne und Linke für Systemwechsel
Auf Sicht stecken die Kassen in der Kostenfalle. Die Beiträge kann die Bundesregierung nicht weiter anheben, wenn sie ihre »Sozialgarantie« einhalten will: Die Sozialversicherungsbeiträge sollen bei maximal 40 Prozent des Bruttoeinkommens stabilisiert werden. Die GKV-Finanzen dauerhaft ins Lot zu bringen, ist »auf jeden Fall« die dringlichste Aufgabe nach der Bundestagswahl, sagt Kai Senf, ein Geschäftsführer des AOK-Bundesverbandes. »Auf der Einnahmenseite muss klar geregelt werden, was die GKV zu zahlen hat und was in die Finanzverantwortung des Staates fällt.« Notwendig sei etwa ein genau abgegrenzter Bundesbeitrag für versicherungsfremde Leistungen, die bislang von der GKV übernommen werden, aber eigentlich zu anderen Aufgaben wie der Familien-, Bildungs- oder Infrastrukturpolitik gehören. Zusätzlich müssten die Krankenversicherungsbeiträge für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhöht werden. Das würde die Kassen um acht bis zehn Milliarden Euro pro Jahr entlasten - und die Staatshaushalte entsprechend belasten.
Politik und Kassen würden auch darum gerne die Kosten senken. Telemedizin, Überwindung der Schnittstellen zwischen niedergelassenen Ärzten, Kliniken und Kassen, mehr ambulante Behandlungen von Patienten und eine Zentralisierung - oder Dezentralisierung - des Krankenhauswesens werden diskutiert. In der Kritik steht auch die Fallpauschale, nach der Ärzte und Kliniken abrechnen müssen.
Kritik wird auch immer wieder laut an der Chemie- und Pharmabranche, deren Umsatzrendite als eine der höchsten in der Industrie gilt und deren Schwerpunkte häufig auftretende und chronische Krankheiten sind. Goldesel halt. Seltene Erkrankungen, die jeweils oft wenige hundert Menschen treffen, werden kaum erforscht, sind aber in der Summe für die Kassen kostspielig. Allein in Deutschland leben nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums etwa vier Millionen Menschen mit solchen »Orphan Diseases«.
Viele Baustellen tun sich also für ein Reformprojekt »Gesundheit« auf. Doch die »rechten« Parteien trauen sich selbst in der Finanzierungsfrage nicht recht, neue Wege zu beschreiten. Ihre wirtschaftsliberalen Vordenker halten stattdessen eine Kombination aus Umlage- und (privatem) Kapitaldeckungsverfahren - ähnlich wie es in der Rentenfrage gefordert wird - für unumgänglich. »Daran führt kein Weg vorbei«, kommentierte Christian Geinitz in der »FAZ«.
SPD, Grüne und Linke wollen ebenfalls einen Systemwechsel. Hin zu einer Bürgerversicherung, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen und Einkünfte aus Kapital und Immobilien einfließen. Das würde zunächst die Kassen entlasten. Mittelfristig stiege aber auch die Zahl der in der GKV versicherten Kranken. Die langfristige Unterfinanzierung ließe sich so nur teilweise kurieren. Ein Spitzengespräch mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch brachte keine Erhöhung des Bundeszuschusses. Die Kassen hatten auf eine Sondersitzung des Parlaments noch im September gehofft. Nun wird sich erst der neue Bundestag mit der Lage der klammen Kassen befassen.
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