Enttäuschte Linke denken über neue Partei nach

Der Rechtskurs der britischen Labour-Regierung unter Keir Starmer hat die Debatte um eine neue progressive Partei befeuert

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 8 Min.
Auch der frühere Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, der als unabhängiger Kandidat im britischen Unterhaus sitzt, nimmt an den Beratungen über eine Parteineugründung teil.
Auch der frühere Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, der als unabhängiger Kandidat im britischen Unterhaus sitzt, nimmt an den Beratungen über eine Parteineugründung teil.

»Die Leute haben die Schnauze voll«, sagt Pamela Fitzpatrick. »Für viele sind Labour und Konservative nichts als Gauner in Anzügen.« Dieser Frust befeuere die radikale Rechte, verkörpert durch Nigel Farages Partei Reform UK. Fitzpatrick will dem etwas entgegensetzen: eine neue linke Partei. »Wenn wir diese Chance verpassen, fürchte ich die Konsequenzen.«

Es ist ein riskantes Unterfangen. Denn die Geschichte der linken Wahlalternativen in Großbritannien ist voll von Rohrkrepierern und Strohfeuern. Viele lösten kurz Enthusiasmus aus, nur um dann unaufdringlich vor sich hinzudümpeln. Andere wurden außerhalb linker Kreise kaum bemerkt. Man denkt an Left Unity, die Breakthrough Party oder die Northern Independence Party. Erfolge stellten sich bloß vereinzelt und lokal isoliert ein. Keine der Neuparteien kam einem landesweiten Durchbruch auch nur nahe. Dass etwa die Respect Party 2005 einen Unterhaussitz im Osten Londons gewann, war auch nur dem verbreiteten Zorn über den Irakkrieg geschuldet.

Aber Pamela Fitzpatrick ist sich sicher, dass es diesmal anders komme. Ihr politisches Engagement entsprang beruflichen Erfahrungen. Lange Zeit arbeitete sie in Armutskampagnen, gründete 2010 das Harrow Law Centre, eine Rechtsberatung für Menschen, die Probleme mit Mieten, Sozialleistungen oder dem Asylsystem haben. »Wir können zwar einzelnen Menschen helfen, aber ich wollte das System ändern, das überhaupt erst für ihre Probleme verantwortlich ist.« Fitzpatrick war lange Zeit treue Labour-Parteigängerin, seit ihren Teenagerjahren Mitglied, von 2014 bis 2021 vertrat sie die Partei als Gemeinderätin in Harrow, einem Vorort im Nordwesten Londons. 2019 trat sie dann auch noch als Parlamentskandidatin für den Sitz Harrow East an.

Unter dem Vorsitz des Parteilinken Jeremy Corbyn (2015–2020) sah Fitzpatrick Labour als ein perfektes Vehikel für Systemänderungen. Aber die Corbyn-Jahre endeten mit einer bitteren Niederlage im Dezember 2019 – auch Fitzpatrick unterlag ihrem konservativen Rivalen. Keir Starmer übernahm den Vorsitz und begann, die Partei umzukrempeln. Er verabschiedete sich von der Umverteilungspolitik und signalisierte stattdessen »fiskalpolitische Verantwortung«; an die Stelle von Solidarität mit Geflüchteten trat die harte Rhetorik gegen Asylbewerber*innen; die einst versprochenen Investitionen in den grünen Umbau der Wirtschaft wurden bald dezimiert. Starmer machte sich zudem daran, den linken Flügel kaltzustellen. Hunderte Basisaktivist*innen und Gemeinderäte wurden suspendiert, Fitzpatrick war im November 2021 an der Reihe. Die Parteiführung warf ihr vor, gleichzeitig Mitglied in einer kleinen sozialistischen Organisation zu sein – was nicht stimmte. »Es war lächerlich«, sagt Fitzpatrick.

Aus Keir Starmers Sicht hatte der Rechtsschwenk seinen guten Zweck. »Wir haben es geschafft!«, sagte er am 5. Juli 2024, als Labour die Parlamentswahl haushoch gewann, mit einer Mehrheit von über 170 Mandaten. »Viereinhalb Jahre lang haben wir daran gearbeitet, die Partei zu verändern, und hierfür haben wir es getan.« Aber die Sitzgewinne, auf dem Papier zweifelsohne beeindruckend, erzählen nur die halbe Geschichte. Wie viele Analysen zeigen, war der Labour-Sieg vor allem der Schwäche der Tories geschuldet. Enthusiasmus für Starmers Partei gab es keinen – in absoluten Zahlen verlor Labour im Vergleich zu 2019 sogar eine halbe Million Stimmen.

Viele progressive Wähler*innen hatten Alternativen gefunden. Sie wählten die Grünen, die 6,7 Prozent der Stimmen und vier Sitze gewannen, oder sie stimmten für unabhängige Kandidaten. Die Ereignisse in Nahost spielten eine wichtige Rolle: Die Unterstützung Starmers für den israelischen Angriff auf den Gazastreifen veranlasste Zehntausende Wähler*innen, der Labour-Partei den Rücken zu kehren und pro-palästinensische Kandidaten zu wählen. Fünf von ihnen zogen ins Unterhaus ein, unter anderem Ex-Chef Jeremy Corbyn, der ebenfalls aus der Partei geschmissen worden war. Auch Pamela Fitzpatrick trat als Unabhängige in Harrow West an, allerdings kam sie mit 4000 Stimmen nur an dritter Stelle, hinter Labour und den Tories.

Aber die Kampagne machte ihr Mut. »Es war fantastisch. Wir trafen während des Wahlkampfs so viele Leute, die sich nach einem wirklichen Wandel sehnen.« Noch nie zuvor habe sie eine so tiefe und verbreitete Enttäuschung über die etablierten Parteien erlebt. Darauf will sie jetzt aufbauen.

Die bisherigen acht Monate der Labour-Regierung haben die Befürchtungen vieler Linker bestätigt: Starmer hat zwar einen Wandel versprochen, aber davon zu sehen war bislang wenig. Etliche Vorstöße hätte man sich eher von einer Tory-Regierung erwartet, etwa die Kürzungen beim Heizkostenzuschuss für Rentner*innen oder beim Kindergeld für arme Haushalte. Jüngst kündigte die Regierung zudem an, die Unterstützungsleistungen für Behinderte um 5 Milliarden Pfund zu kürzen.

»Für viele sind Labour und Konservative nichts als Gauner in Anzügen.«

Pamela Fitzpatrick
Suspendiertes Labour-Mitglied

Abgesehen von einer Erhöhung des Mindestlohns und einer Stärkung der Rechte von Lohnabhängigen hat die Labour-Regierung kaum etwas unternommen, um die Lebensumstände der Normalbürger*innen zu verbessen – etwa bei den hohen Mieten, den exorbitanten Energiekosten, oder dem abgewirtschafteten öffentlichen Dienst. »Die Unzufriedenheit der Leute nimmt von Tag zu Tag zu«, sagt Fitzpatrick.

Die Debatte um eine neue Linkspartei ist in den vergangenen Monaten konkreter geworden, wenn die Lage derzeit auch eher unübersichtlich ist, mit verschiedenen, teilweise personell überlappenden Initiativen. Fitzpatrick ist Mitgründerin einer Organisation namens Collective. Bei der Parlamentswahl 2024 hat sie bereits unabhängige Kandidat*innen unterstützt, letztlich soll Collective zu einer eigenen Partei werden. Derzeit sind Fitzpatrick und ihre Mitstreiter*innen im Austausch mit zahlreichen lokalen und landesweiten Basisgruppen und Kampagnen, um ihre Unterstützung zu gewinnen und der geplanten Partei schärfere Konturen zu geben. Viele sind schon an Bord gekommen, darunter die Trade Unionist and Socialist Coalition, die Kampagne The Muslim Vote, und die Lokalpartei Liverpool Community Independents.

Diese Graswurzelarbeit sei entscheidend, sagt Fitzpatrick: »Die Partei muss von unten her aufgebaut werden. Wir können nicht einfach eine neue Partei ankündigen und sagen: ›Dies ist unser Programm.‹« Wenn nicht von Anfang an die Kollaboration an der Basis im Zentrum stehe, dann fehle der Partei die gesellschaftliche Verankerung.

Der zweite Punkt, den Fitzpatrick für entscheidend hält, ist politische Radikalität. »Die Probleme der Leute können nicht gelöst werden, indem man minimale Reformen vornimmt – das reicht längst nicht mehr.« Stattdessen müsse sich die neue Partei gegen den politischen und wirtschaftlichen Konsens stellen, der in den Machtzentren vorherrscht.

Das heißt zum Beispiel: Verstaatlichung von Wasser- und Energieversorgung; die Einführung einer Vermögenssteuer; ein Ausschluss des Privatsektors vom staatlichen Gesundheitsdienst; die Vergesellschaftung der Bauindustrie, damit erschwingliche Wohnungen gebaut werden können; ein Ende der hetzerischen Rhetorik gegen Migrant*innen. »Es muss alles darauf ausgerichtet sein, das Leben der Menschen konkret zu verbessern. Und wir brauchen eine rebellische Energie und Rhetorik, um die Leute zu mobilisieren.« Andernfalls werde bloß die radikale Rechte stärker, sagt Fitzpatrick.

Aber nicht alle sind überzeugt. Rachel Godfrey Wood würde Fitzpatricks Analyse der Labour-Regierung und der aktuellen politischen Großwetterlage im Land zwar vollkommen zustimmen – aber sie hält eine neue Linkspartei für den falschen Weg. Godfrey Wood, 40 Jahre alt, trat Labour im September 2015 bei, zwei Wochen nachdem Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden gewählt worden war. Als Corbyns Anhänger*innen die Organisation Momentum gründeten, um der Linken innerhalb der Parteistrukturen und der Wählerschaft eine dauerhafte Basis zu geben, war Godfrey Wood von Beginn an mit dabei. Heute ist sie die nationale Koordinatorin von Momentum – und noch immer der Meinung, dass sich die Linke innerhalb Labours organisieren sollte. »Dies bietet die beste Chance, eine transformative Regierung zu bilden«, sagt Godfrey Wood.

Sie räumt ein, dass die Position der Labour-Linken derzeit sehr schwach ist. Zählte Momentum mal 35 000 Mitglieder, sind es mittlerweile weniger als 10 000. »Es wird sehr lange Zeit dauern, den Schaden zu beheben, den Starmer in den vergangenen fünf Jahren angerichtet hat«, so Godfrey Wood. Aber es sei besser, langfristig auf dieses Ziel hinzuarbeiten – also die Labour-Partei wieder zu einer linken Politik zu verpflichten – als die Hoffnung in eine neue Partei zu stecken, »die vielleicht ein paar Sitze gewinnt, aber niemals regieren wird«. Das britische Mehrheitswahlsystem mache es neuen Parteien nun mal sehr schwer, auf kurze oder mittlere Frist den parlamentarischen Durchbruch zu erreichen.

Außerdem – und dies sei entscheidend – profitiert Labour von der Beziehung zu den Gewerkschaften. Die Partei wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit dem expliziten Zweck gegründet, die organisierte Arbeiterschaft im Parlament zu vertreten. Noch heute ist die Unterstützung durch die Gewerkschaften zentral. Elf von ihnen, darunter die drei größten, sind sogenannte affiliated trade unions, also der Labour-Partei angegliederte Gewerkschaften, die sie auch finanziell unterstützen. »Es ist unwahrscheinlich, dass sie diese historische Beziehung aufgeben und sich einer anderen Partei anschließen«, sagt Godfrey Wood.

Sie glaubt, dass sich früher oder später eine Möglichkeit für die Linke eröffnen werde, um ihren Einfluss innerhalb der Partei wieder geltend zu machen. Der Grund ist einer, bei dem sich Godfrey Wood und Pamela Fitzpatrick wiederum einig sind: Starmer ist sehr verwundbar. »Er hat kaum Rückhalt in der Bevölkerung und ist fast völlig abhängig von der Unterstützung der Medien«, sagt Godfrey Wood. »Sobald diese entzogen wird, wird das ganze Projekt zerbröckeln.« Auch sei denkbar, dass ein bedeutender Block der Partei beginnt, sich dem Premierminister zu widersetzen.

Schon in den vergangenen Wochen machte sich innerhalb der Labour-Fraktion verstärkt Unmut breit. Die verbissene Sparpolitik, die Starmers Regierung vorantreibt, stößt zunehmend auf Widerstand. Gut möglich, dass es in den kommenden Monaten zu einer größeren parlamentarischen Rebellion kommt.

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