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»Wirklich frei ist, wenn der übernächste Tag auch noch frei ist«

Mit »Musik für Flugräder« würdigen Maxi Pongratz und Micha Acher den Erfinder Gustav Mesmer

  • Ruth Oppl
  • Lesedauer: 7 Min.

»Ich schreibe immer nachts. Dann kommen die Musen zum Vorschein. Halte dein Notenpapier und deinen Stift neben dir bereit, denn wenn du nicht wach bist, wird Gott sie die Straße runter zu Mancini schicken.« Quincy Jones sagt das im Dokumentarfilm »Quincy« über seine Arbeit als Komponist. Wenngleich Jones vermutlich besser als die meisten weiß, wie das so ist mit den Musen, scheint es nicht gänzlich abwegig, davon auszugehen, dass sich die Musen für das Album »Musik für Flugräder« bei Micha Acher zur Untermiete einquartiert haben.

Der Weg dürfte ihnen vertraut gewesen sein, zumindest lässt das künstlerische Werk Achers darauf schließen: Mit seinem Bruder Markus und ihrer gemeinsamen Band The Notwist hat er Popgeschichte geschrieben, preisgekrönte Filmmusiken (»Wackersdorf«, »Sturm«) komponiert und in den verschiedensten Formationen die Bandbreite und Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks vermessen. Jetzt hat er also »Musik für Flugräder« komponiert, und was auf den ersten Blick den Anschein hat, als sei es eine ganz normale Platte, entpuppt sich als multidimensionales Kunstwerk ganz eigener Art und Prägung. Aber der Reihe nach. Und weil die Entstehungsgeschichte dieser Musik keinen singulären Anfang hat, sondern viele, beginne ich bei einem Ende, das gleichzeitig ein Anfang ist.

»Wirklich frei ist, wenn der übernächste Tag auch noch frei ist.« So lautet der Titel des zweiten Stücks auf dem Album. Er stammt von Maximilian Pongratz, der das Album zusammen mit Micha Acher und »mit Verstärkung« aufgenommen hat. Es ist eine ganz besondere Kunst, Wahrheit in so einfache Sätze zu packen, dass ihnen niemand widersprechen kann. Materialistische Poesie quasi. Pongratz ist einer, der diese Kunst meisterhaft beherrscht. Kein Wunder, dass er bereits in eine Reihe mit Karl Valentin gestellt wurde, denn da gehört er auch hin, direkt neben Gerhard Polt.

Gedichte hat er immer schon geschrieben, und nachdem sich seine Band Kofelgschroa, für die er so wunderschöne Liedzeilen wie die von der Wäsche und dem Licht geschrieben hat, sich 2019 getrennt hat, war er auf sich allein gestellt. Weil Kunst halt nicht nur vom Können, sondern auch vom Müssen kommt, wie Arnold Schönberg bereits 1910 in seinen Essay »Probleme des Kunstunterrichts« anmerkte, zog also »der Maxi« mit seinem Akkordeon alleine los. Seine musikalischen Reisen führten ihn durch Süd-, Ost- und Mitteleuropa, in die Türkei, nach Südamerika und in den Süden Amerikas.

Dass es heute überhaupt drei Kofelgschroa-Alben gibt, ist wiederum Micha Acher zu verdanken. Jahrelang gab es die Gruppe aus Oberammergau nur als reine Live-Band, und es erschien unmöglich, ein Studioalbum mit ihnen zu machen, einfach weil die Art und Weise, wie Kofelgschroa Musik machte, nicht in Einklang zu bringen war mit einer Studiosituation. Bis es Micha Acher gelang, ein Setting zu schaffen, das so luftig war, dass die Aufnahmen gelingen konnten.

Nachdem sich die Band in eine bis heute andauernde Pause verabschiedete, überlegte sich Micha Acher, für Pongratz Musik »mit Unterstützung« zu schreiben. Und als er dann auf einer Art-Brut-Ausstellung die Flugräder des schwäbischen »Ikarus vom Lauertal«, Gustav Mesmer, ausgestellt sah, wusste er, dass er das Thema für diese Musik gefunden hatte. Die Flugräder erinnerten ihn nämlich an das Cover von »Zaun«, dem zweiten Kofelgschroa-Album (2014): »Wo der Maxi auf dem Cover ist mit dem Radl, und irgendwann später habe ich mir gedacht, krass, das passt ja so gut zusammen: Der Typ hat die Räder für den Maxi gebaut, wenn das funktionieren würde, das wäre dem Maxi sein Fortbewegungsmittel.«

Gustav Mesmer (1903 - 1994) war auch einer, der in Schönbergs Sinne musste. 35 Jahre war er in den geschlossenen psychiatrischen Abteilungen von Bad Schussenried und Weissenau weggesperrt, 16 mal ist er ausgebrochen und weggelaufen, nur um immer wieder erneut zurückgebracht und interniert zu werden. »Schizophrenie, langsam fortschreitend, bei einem von Haus aus vielleicht schon schwachsinnigen Menschen«, so lautete die Diagnose, weil Mesmer 1929 eine Konfirmationsfeier in der evangelischen Kirche mit dem Hinweis störte, dass »hier nicht das Blut Christi ausgeteilt« werde und »sowieso alles Schwindel« sei.

Den Nationalsozialismus überlebte er, weil die Anstaltsleitung ihn als tüchtigen Arbeiter behalten wollte, während Hunderte seiner Mitpatient*innen in der Tötungsanstalt Grafeneck als »unwertes Leben« ermordet wurden. Auch nach 1945 wird Mesmer nicht entlassen, sondern lediglich von Bad Schussenried nach Weissenau verlegt, wo er bis 1964 weiterhin eingesperrt bleibt.

»Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab.« Diese Notiz findet sich 1932 erstmals in der Krankenakte von Gustav Mesmer, was dazu führt, dass ihm zusätzlich zur Schizophrenie auch »Erfinderwahn« sowie ein »infantiler Charakter« bescheinigt wird. Über tausend Zeichnungen fertigt Mesmer mit Kugelschreiber, Bleistift und Wasserfarben an, getrieben von der Idee, dass das »doch auch auf andere Art und Weise gehen (muss), das Fliegen, so dass in Zukunft auch der gewöhnliche Mensch mit dem Rad fliegen kann. Von Ortschaft zu Ortschaft.« Ohne den »Saukrach«, den Flugzeuge machen, frei in der Luft. »Wenn ich fliegen will, dann will ich mit der Luft verbunden sein.«

Die Fluggeräte, die Mesmer entwirft, heißen »Schirmhubschrauber«, »Doppeldrachen-Flugrad« oder »Luftbootdrachenflugfahrrad« und haben zeppelinartige Aufbauten, den Drachenfliegern ähnliche Tragflächen oder Flügel, die denen der Fledermaus oder von Käfern nachempfunden sind.

Als er mit 61 Jahren in die Freiheit entlassen wird, beginnt er damit, seine Flugräder zu bauen und hügelabwärts auf der schwäbischen Alb auszuprobieren. Und für diese Fluggeräte also gibt es jetzt eine Musik, die sich genauso anhört, wie sie sich anhören muss: »Musik für Flugräder«. Mit dem Schwung von Cole Porter, an die endlosen Weiten von Ennio Morricone erinnernd, jene Sehnsucht hervorrufend, die man aus der Musik kennt, die entlang der Donau gespielt wird.

Man sieht im Geiste Bilder von einer französischen Landpartie, zu denen die verspielte Musik eines Michel Legrand erklingt, bei der ich immer an den roten Lippenstift der Trikont-Labelchefin Eva Mair-Holmes denken muss, und hört – natürlich – die treibenden hypnotisch-futuristischen Klänge von Sun Ra. Und alles wird zusammengehalten durch jenen »Rumpeljazz«, der bereits für die Hochzeitskapelle, ein anderes Ensemble der beiden Acher-Brüder, so typisch ist.

Gespielt wird diese Musik von Musiker*innen aus der Münchner Musikszene, die sich dadurch auszeichnet, dass sie, wie der Schriftsteller Franz Dobler in seinen Liner-Notes schreibt, »eine schwer zu überbietende Ahnung von verschiedenen Traditionen bis zu Pop- und experimenteller Musik (haben), und die komplette Aufzählung der Kapellen, die sie ansonsten verstärken oder verstärkt haben, würde, wie man in Bayern sagt, auf keine Kuhhaut gehen«.

Damit die Musik trotzdem die brüchige Flüchtigkeit behält, die die aus Sperrmüll gebauten Flugräder von Mesmer besonders auszeichnet, und nicht zu glatt und virtuos klingt, überlegte sich Micha Acher für die Aufnahme ein ganz besonderes Procedere: »Alles, was wir spielen, steht auf Noten, deshalb hat es auch was Kammermusikalisches. Und da wollte ich dann eben nicht, dass es sowas Ambitioniertes hat und glatt und sauber und gut gespielt klingt, sondern wir haben es an einem Tag aufgenommen und am zweiten nochmal durchgespielt. Diese zweite Aufnahme ist es dann geworden, es hatte genau den Charme, den wir haben wollten.«

Es ist ein Soundtrack ohne Film, der da entstanden ist, und glücklicherweise ist er bei Trikont herausgekommen, eben jenem Label, das sich bereits in der Vergangenheit durch seine Liebe zum Flüchtigen einen Namen gemacht hat (man denke nur an das Album »Die Zukunft«, für das sich der Aeronauten-Sänger GUZ, Bernadette La Hengst und Knarf Rellöm zusammengetan haben). Weil es den Film für diese Musik noch nicht gibt, bekommt man, wenn man das Album als Schallplatte auf Vinyl kauft, zusätzlich zur Musik einen Bausatz, mit dem man sich den zugehörigen Film im Kopf selbst zusammenbauen kann.

Neben einem wunderschönen Siebdruck, der eines der Mesmerschen Flugräder aus der Werkstatt von Señor Burns zeigt, der bereits für alle diese Musiker und ihre Ensembles die eindrucksvollsten Konzertplakate hergestellt hat, gibt es die Liner-Notes von Dobler, in denen er die Geschichten rund um das das Album in seinem ganz eigenen Sound erzählt. Und deshalb ist »Musik für Flugräder« eben doch ein Allstar-Album, auch wenn Dobler uns verbietet, es so zu nennen. Vielleicht weil er selbst neben den hervorragenden Musikern, Señor Burns und Eva Mair-Holmes mit dem Label Trikont einer dieser Allstars ist.

Maxi Pongratz, Micha Acher & Verstärkung: »Musik für Flugräder« (Trikont)

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