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Gidon Lev: »Es gibt immer ein Morgen«
Gidon Lev über seine Kindheit in deutschen Konzentrationslagern und den Krieg in Nahost
Herr Lev, im Dezember 1941 wurden Sie, Ihre Eltern und Ihr Großvater von Karlsbad nach Theresienstadt deportiert. Ahnten Sie, was Sie dort erwartete?
Zuerst sind mein Vater und mein Großvater von den Nazis nach Theresienstadt geschickt worden. Sie sollten das Lager mit aufbauen, den Stacheldraht, die Schlafplätze. Zwei Wochen später sind meine Mutter und ich dort angekommen, aber meinen Großvater habe ich nie wieder gesehen. Er war krank, kam auf die Krankenstation und starb dort eineinhalb Jahre später. Ich habe Dokumente, die das belegen. Vater war über drei Jahre in Theresienstadt, wo er in einer Mine arbeiten musste. Zehn Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee wurde er auf den Todesmarsch nach Auschwitz getrieben. Er ist unterwegs gestorben. Nur meine Mutter und ich haben überlebt.
Gidon Lev, geboren 1935 in der Tschechoslowakei, in Karlovy Vary (Karlsbad). Nach der Befreiung 1945 ging er zunächst in die USA und nach Kanada. 1959 übersiedelte er nach Israel und gründete dort den Kibbutz Hazorea, wo er als Farmer arbeitete. Spät hat er sich seinem eigenen Leid und dem seiner Familie während der NS-Zeit gestellt. Vor kurzem erschienen auf dem deutschen Buchmarkt seine Erinnerungen: »Let’s make things better!«
Wussten Sie von den Vernichtungslagern der Nazis?
Die Leute in Theresienstadt wussten nichts von Treblinka, Buchenwald oder Mauthausen. Ich als kleines Kind sowieso nicht. Aber wir hatten alle große Angst, dass in unserem Essen etwas Schlechtes drin sein könnte. Alles, was die Nazis über das Lager Theresienstadt gesagt hatten, war gelogen.
Sie haben dort Hinrichtungen ansehen müssen. Das muss für ein Kind unerträglich gewesen sein.
In den ersten Monaten hat die SS Postkarten ausgegeben. Da stand drauf: »Es ist alles in Ordnung, wir sind okay. Viele Grüße!« Das war eine Lüge. Es gab junge Männer, die versuchten, eigene Postkarten zu verschicken mit Nachrichten über das mangelnde Essen und die schwere Arbeit. Die Nazis fanden das heraus. Wir hörten eines Tages furchtbare Schreie. Die SS folterte in einem Keller Menschen mit glühenden Zigaretten, damit sie erzählten, wer die Postkarten und Briefe hinausgeschmuggelt hatte. Und dann haben sie 16 Menschen gehängt. Die Frauen und Kinder mussten das mitansehen. Das werde auch mit ihnen passieren, wenn sie versuchten, illegale Briefe zu verschicken, sagte die SS.
Und das alles haben Sie als Kind mitansehen müssen!
Als man die Ermordeten losmachte, drehte meine Mutter mir den Kopf zur Seite. In Theresienstadt gab es zwar keine Gaskammern oder Erschießungen, aber dort wartete auf uns eigentlich nur der Tod. Fast 35 000 jüdische Menschen sind dort umgekommen. Sie starben an Unterernährung, an Krankheiten, an Überarbeitung oder an Verzweiflung. Es konnte passieren, dass man einen Tag noch arbeitete und am nächsten Tag die Nachricht bekam, sich am Bahnhof einzufinden. Warum? Wer weiß. Die SS sagte, sie wolle 155 junge Leute abtransportieren. Die Juden mussten selbst entscheiden, wer von ihnen gehen sollte. Das war schrecklich.
Wie lief die Auswahl ab?
Ein Beispiel: Meine Mutter hatte einen Abszess über der Brust. Der Doktor im Krankenzimmer war unser Hausarzt und mein Geburtshelfer in Karlsbad gewesen. Die SS sagte, er solle am nächsten Morgen 155 seiner Patienten zum Bahnhof bringen. Mutter stand zweimal auf dieser Liste, Dr. Feldmann hat ihren Namen zweimal gestrichen. Aber das bedeutete, dass jemand anderes hat an ihre Stelle treten müssen. Oder sie hätten den Doktor selbst mitgenommen. Angst herrschte in Theresienstadt die ganze Zeit. Alles war Lüge.
Wie ist man im Lager mit Kindern verfahren?
Männer waren in einer eigenen Kaserne untergebracht. Und wer älter als zehn war, wohnte in einer Gruppe und nicht mit den Eltern zusammen. Die Kinder hatten meistens einen Häftling, der mit ihnen spielte oder sie unterrichtete. Das war nicht legal, aber die Nazis wussten nichts davon. Sie haben auch Kinder auf die Transporte geschickt, und auch darüber mussten die Juden selbst entscheiden. Eine schreckliche Sache. Ich möchte daran nicht mehr denken.
Wie sah der Tagesablauf im Lager aus?
Meine Mutter ist um sechs Uhr früh in den Lagerhof gegangen, wo die Frauen zu schweren körperlichen Arbeiten eingeteilt wurden. Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen. Abends um acht war sie so müde, dass sie sofort nach der Suppe schlafen ging. Ich habe in der Zeit versucht, ein Stückchen Brot oder einen halben Apfel zu finden. Manchmal stahl ich sechs, sieben Äpfel von einem Lastwagen. Einmal haben wir Kinder Fässer mit Marmelade entdeckt, so hatten wir auch mal etwas Süßes auf dem Stückchen Brot. Auf diese Weise habe ich überlebt.
Konnte man mit einzelnen Nazi-Aufsehern reden?
Nein, nein. Jeder hatte vor jedem Angst. Man wusste nie, ob dir jemand wirklich helfen wollte. Diese Person hätte dafür auch bestraft und abtransportiert werden können. Es fällt mir wirklich schwer, das zu erzählen. Schauen Sie mal, auf diesem Foto ist meine Großmutter zu sehen, sie starb 1941 in Prag. Das sind mein Vater und mein Großvater Alfred, und das bin ich an meinem dritten Geburtstag. Alle außer mir sind nicht mehr.
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Hat Ihre Mutter Ihnen im Lager erklärt, dass Ihr Vater und viele andere Verwandte ermordet worden waren?
Zuerst einmal hat sie es selbst nicht gewusst. Und sie war keine Mutter, die mit ihrem Sohn viel redete. Sie sagte aber immer: »Sei vorsichtig!« Reden war nicht ihre Stärke. Damals nicht und auch später nicht. Hier noch ein interessantes Foto vom Oktober 1934. Hitler war da schon an der Macht. Das Bild wurde in Karlsbad an der Promenade aufgenommen und zeigt meine Urgroßmutter Rosa, meinen Großvater und meine Eltern. Ich war noch im Bauch meiner Mutter. Alle sehen glücklich aus. Was in Deutschland passierte, war weit weg. Wir lebten ja in der Tschechoslowakei. Aber bald war das schöne Leben vorbei.
Zeitsprung: Im Norden Israels trafen Sie 1985 auf eine Gruppe von Schülern aus dem Ruhrgebiet. War das Ihre erste Begegnung mit Deutschen seit 1945?
Ja. Nof HaGalil ist die Oberstadt von Nazareth, wo die meisten israelischen Araber leben. Sie ist auch Partnerstadt von Leverkusen. Eine Delegation von Schülern und Lehrern kam für zehn Tage zu uns, und der Bürgermeister wusste, dass ich Deutsch spreche. Also habe ich beim Dolmetschen geholfen. Dann wurde ich vom Lehrer gefragt, ob ich als Holocaust-Überlebender vor seinen Schülern sprechen wolle. Ich dachte, warum nicht. Es war das erste Mal und sehr emotional, nicht nur für mich, sondern auch für die Jugendlichen, die mich anschließend umarmten. Das Gleiche habe ich dann auch in Schulen in Nazareth getan.
Sie brauchten nach Ihrer Befreiung aus dem KZ mehr als 40 Jahre, um Ihre Geschichte erzählen zu können. War es erleichternd, dass Sie das ausgerechnet vor Jugendlichen aus Deutschland taten?
Ja, das kann man sagen. Ich hatte eine große Familie, mein Leben war auf die Gegenwart und die Zukunft konzentriert, aber diese Begegnung mit jungen Deutschen hat mich zurückgebracht. Nachdem ich zu diesen Jugendlichen aus Leverkusen gesprochen hatte, fand ich es gar nicht so schlecht, einmal zurückzuschauen auf alles, was mir passiert war. Ich fragte mich: Was kann ich tun, um die Welt besser zu machen.
In Ihrem Buch steht der bemerkenswerte Satz: »Ja, es gibt ein Morgen!« Ihr lebenslanger Leitsatz?
Solange wir leben, gibt es immer ein Morgen. Hoffen ist Leben. Wir sind nur ein winziger Teil auf dieser Welt, aber wir können sie etwas besser machen. Und zwar heute und nicht erst irgendwann.
Sie waren der erste Holocaust-Überlebende, der bei einem offiziellen diplomatischen Anlass in den Vereinigten Arabischen Emiraten gesprochen hat. Wie wurde Ihre Rede aufgenommen?
Es war sehr bewegend und sehr speziell, aus vielen Gründen. Ich, ein israelischer Jude, spreche in einem arabischen Land über den Holocaust. Die meisten Araber wissen nichts darüber. Und da kam der kleine Gidon und erzählte ihnen, was ihm als Kind passiert war. In dem Auditorium waren vielleicht 200 Männer und Frauen, darunter auch Botschafter. Weil es den Holocaust gab, verdienten wir Juden einen eigenen Staat. Wir leben zusammen mit Arabern. Ich habe arabische Nachbarn. Wir können und müssen zusammenleben. Das ist unsere Zukunft.
Wie oft erleben Sie heute im Alltag Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern, die Hoffnung geben?
Die Zeit seit dem 7. Oktober ist schrecklich für uns alle, Juden und Palästinenser, Muslime und Christen. Wir müssen es in Zukunft anders machen. Und wir können das auch! Ich bin nicht der einzige, der so denkt. Viele tausend andere glauben das auch. Natürlich gibt es auch welche, die das nicht so sehen; aber das ist nicht neu. Wir müssen etwas dafür tun, dass Israelis und Araber zusammenleben können. Wir müssen uns gegenseitig als Menschen sehen.
Sie sind ein Optimist?
Ja. Weil ich weiß, dass es immer auch besser werden kann. Ich habe das selbst erlebt. Ich hatte Krebs, ein transitionales Zellkarzinom in der Blase. Nach sieben Jahren sagte mein Arzt zu mir: »Mein lieber Gidon, dein Krebs ist gewachsen. Ich könnte dich operieren, aber du sollst den besten Arzt überhaupt haben. Ich gebe dir die Namen von zwei Spezialisten in Haifa. Such dir einen aus und lass dich von ihm operieren.« Und hier bin ich, 14 Jahre später.
Hat die Menschheit aus dem Holocaust wirklich gelernt?
Ich weiß es nicht. Ich hoffe, die Menschheit hat daraus etwas gelernt. Ich denke, der Holocaust, wie wir Juden ihn erlitten haben, wird nie wieder passieren. Aber es gab noch andere, kleinere Holocausts, die weniger bekannt sind. Zum Beispiel in Ruanda. Wir müssen so viel wie möglich aufklären. Meine Lebensgefährtin Julie Gray ist sehr gut darin. Ohne sie wäre mein Buch nicht erschienen. Wir wollen gemeinsam die Welt zu einem besseren Ort machen. Let’s make things better!
Gidon Lev/Julie Gray: Let’s make things better! Ein Holocaust-Überlebender über die Kraft des Positiven. Mosaik-Verlag. 224 S., geb., 22 €.
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