Das lange Warten

Seeleute müssten in der Corona-Pandemie meistens an Bord ausharren. Impfungen wirken wie eine Befreiung

  • Knut Henkel, Hamburg
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Bus mit dem Roten Kreuz steht vor dem Haupteingang des Duckdalbens. Die Türen zum Billardraum sind sperrangelweit offen, drei weiß gekleidete Personen stehen davor, warten auf Kundschaft und vertreiben sich die Zeit. Aus vier Leuten besteht heute das Impfteam, das bereits zum zweiten Mal im Hamburger Seemannsklub im Einsatz ist. Rund 100 Impfdosen haben sie dabei, die komplett verimpft werden sollen. Dafür stehen die Vorzeichen nicht schlecht, denn die Resonanz ist positiv: »Die Seeleute sind dankbar, dass sie hier kostenlos immunisiert werden. Sie verlassen uns mit leuchtenden Augen nach dem Piks«, erklärt die Ärztin, die die Spritze verabreicht und den Impfnachweis anschließend unterschreibt. Zwar will die Frau mit den hochgesteckten Haaren nicht namentlich zitiert werden, aber sie macht kein Hehl daraus, dass es für sie zu lange gedauert hat, bis die Seeleute endlich zu den priorisierten Arbeitern erklärt wurden, die ein Recht auf Immunisierung haben.

Das sieht Seemannsdiakon Jörn Hille genauso. An diesem Morgen koordiniert er die Ankunft der Busse von den Schiffen am Anlegeplatz und nimmt die Seeleute vor dem Duckdalben in Hamburg-Waltershof in Empfang. Nur einen Steinwurf vom Eurogate entfernt, unter einem der Wahrzeichen Hamburgs, der Köhlbrandbrücke, befindet sich der im August 1986 gegründete Klub, der Hamburgs erste Anlaufstelle für Seeleute aus aller Welt ist.

Die Letzten auf der Liste

400 000 von weltweit rund 1,6 Millionen Seeleuten saßen im Herbst 2020 auf ihren Schiffen fest, so die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO). Wer zu Weihnachten an Land gehen konnte, um ein paar Stunden in einem Seemannsklub zu verbringen, hatte schon Glück, etwas Abwechslung in den monotonen Alltag an Bord zu bekommen. »Jeden Tag dieselbe Arbeit, dieselben Leute, immer dasselbe. Immer nur an Bord, immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten«, klagte damals Eddie Sedilla, ein Seemann von den Philippinen an einer Gangway im Hamburger Hafen.

»Die Lage war katastrophal«, meint Sven Hemme von der Internationalen Transportarbeiter-Föderation. Das hat sich erst im Frühjahr 2021 geändert. Vorreiter waren belgische Häfen, die von den Reedereien rigoros das einforderten, worauf die Seeleute ein Recht haben: Ablösung nach Ende des Arbeitskontrakts. Dabei drohten sie den Reedereien, die Schiffe an die Kette zu legen und sie nicht auslaufen zu lassen, wenn die Crews zu lange an Bord waren. Die Drohung hat dazu beigetragen, dass Bewegung in den Austausch der Besatzungen kam und andere Länder dem Beispiel belgischer Häfen folgten. Das sei eine positive Entwicklung, sagt Peter Geitmann Gewerkschaftssekretär Schifffahrt von ver.di. Doch mit derzeit wieder steigenden Infektionszahlen droht ein Rückfall.

Die ersten Nationen haben bereits wieder dichtgemacht, warnt Geitmann. »Das Risiko, dass die Seeleute wieder zum Opfer einer rigorosen Infektionsvermeidungspolitik werden«, hält er für gegeben. Zu den restriktiv agierenden Ländern zählt er Südkorea, Indonesien, zum Teil auch China. »Dort versucht man sich, von allem abzuschotten.« Seeleute gelten dort als Risiko, obwohl sie de facto an Bord kaserniert sind und in aller Regel keine Kontakte in den Häfen haben. »Für mich ist das nicht nachvollziehbar, denn schließlich hat das Impfen der Seeleute begonnen, wenn auch nur in einigen Ländern wie den USA oder Europa.« Er befürchtet, dass immer mehr Seeleute den Job an Bord aufkündigen. Das wäre ein massives Risiko für die Aufrechterhaltung der weltweiten Lieferketten, die bisher trotz aller Probleme gehalten haben. Letztlich könnten auch hierzulande Produkte knapp werden. khe

Ein eingespieltes Team

Auch während der Pandemie ist der Kontakt zu den Seeleuten an Bord der großen Pötte nicht abgerissen. In den ersten Monaten hat das Team um Jörn Hille mit Bordbesuchen und der Belieferung der Schiffe mit Telefonkarten, Schokolade und Hygieneartikeln den Kontakt gehalten. Parallel dazu hat es fieberhaft an einem Hygienekonzept gearbeitet, um den Seeleuten den Landgang so schnell wie möglich wieder zu ermöglichen. Der ist seit Pfingsten letztes Jahr wieder erlaubt.

Die Mühen, die Hille und sein Team auf sich genommen haben, zahlen sich jetzt erneut aus. Das Hygienekonzept ist ausgereift. Die Impfungen sind bestens vorbereitet im Duckdalben. Die leuchtend gelben Pfeile auf dem Boden der weitläufigen Räumlichkeit zeigen den Besuchern an, wo es langgeht; Stellwände sorgen dafür, dass die Besatzungen unter sich sind. All das hilft natürlich bei den seit Ende Juni dieses Jahres laufenden Impfungen.

Der erste Piks fand am 25. Juni, dem Internationalen Tag des Seefahrers statt. »Da haben wir die ersten Impfungen durchführen können. Ohne den hartnäckigen Einsatz von Anke Wibel wäre das kaum möglich gewesen«, sagt Hille. Sie ist Diakonin und leitet den Seemannklub gemeinsam mit Jan Oltmanns seit mehr als 20 Jahren. Entsprechend gut ist die 59-Jährige vernetzt und hat mit der Deutschen Seemannsmission, dem Verband Deutscher Reedereien, dem hafenärztlichen Dienst und ver.di Druck auf die Politik aufgebaut, um Hamburg zum ersten deutschen Hafen zu machen, wo ein kostenloses Impfangebot für Seeleute aller Nationen zur Verfügung steht. »An fünf Tagen in der Woche wird derzeit geimpft. Mehr als 1500 Impfungen haben wir bisher durchgeführt, und heute könnten 100 verabreichte Dosen hinzukommen«, so Hille.

Der 43-Jährige koordiniert die mehr als 4500 seit Beginn der Pandemie durchgeführten Besuche des Duckdalben an Bord und ist auch für die Betreuung von in Hamburg gestrandeten Seeleuten mitverantwortlich, die nicht zurück nach Hause können. Derzeit sind es rund drei Dutzend aus der Inselrepublik Kiribati, die in Hamburg festsitzen, obwohl sie geimpft sind.

Eine Tatsache, die zeigt, wie schwierig die Situation vieler Seeleute in der Pandemie war und ist. Regierungen, die ihre Grenzen angesichts steigender Infektionszahlen sogar für ihre eigenen Mitbürger schließen, hat es gleich mehrere gegeben. Besonders schwierig war die Situation auf den Philippinen, einer der wichtigsten Seefahrernationen weltweit. Entsprechend froh ist Jessie Achacoso Alo, als er stolz sein Impfzertifikat präsentiert. »Für mich macht der Impfnachweis die Rückreise nach Tagum City zu meiner Familie deutlich leichter«, erzählt der 32-Jährige. Seit 2013 fährt er zur See; sein derzeitiger Arbeitsvertrag läuft noch bis Anfang nächsten Jahres. Dann hofft er, ohne Schwierigkeiten zu seiner Frau und seinem gerade erstgeborenen Kind zurückzukommen. »Der Impfnachweis ist für mich quasi das Ticket nach Hause«, sagt der Seemann lächelnd. Zum zweiten Mal ist er im Duckdalben und freut sich über das engagierte Team. Das sei in anderen Häfen durchaus anders, lässt er durchblicken, ohne Details zu nennen.

Doch die sind unter Diakonen, Seemannspastoren, Gewerkschaftern oder den Reedereien hinlänglich bekannt. Fälle, in denen selbst schwer erkrankte Seeleute nicht zur medizinischen Versorgung an Land gelassen wurden, hat es nicht nur im äußerst restriktiv agierenden China, sondern auch in anderen asiatischen Häfen gegeben, berichtet Martina Platte. Die Diakonin mit Dienstsitz Hongkong erinnert sich genau an die langen Monate im vergangenen Jahr, als die Seeleute weltweit kaum von Bord kamen. Bis in den Herbst 2020 waren die einzigen Ausnahmen Hamburg, Bremerhaven und Rotterdam. »Nur in diesen drei Häfen gab es die Chance zum Abmustern«, erklärt sie.

Kontakt halten in der Krise

Platte gehört genauso wie Hille und Hamburgs Seemannspastor Matthias Ristau zu den Seelsorgern, die auf der Chat-Plattform DSM.Care-online für Seeleute erreichbar sind und zum Gespräch zur Verfügung stehen. Das ist eine neue Möglichkeit, um mit den Seeleuten in Kontakt zu bleiben; seit einem Jahr bietet die Deutsche Seemannsmission diese Plattform an. Den Anstoß hierfür hat das Team von Duckdalben gemeinsam mit Pastor Ristau gegeben. Entsprechend positiv ist die Resonanz nicht nur der Seeleute, die die Impfung als Chance und die Arbeit der Diakone als Zeichen der Wertschätzung wahrnehmen, so Hille, sondern auch der Reedereien und Schiffsmakler. Die buchen die Impftermine für die Besatzungen und sorgen für den Transport von den Liegeplätzen der Schiffe zum Duckdalben. »Wenn das mal nicht klappt, schicken wir einen unserer Busse los, um das Impfen zu ermöglichen«, so Hille.

Hamburg war die erste deutsche Stadt, in der Seeleute unentgeltlich geimpft wurden, andere Städte folgten mittlerweile. Alles hängt hierbei vom politischen Willen ab, der in den Bundesländern unterschiedlich ausgeprägt ist. International sieht es nicht anders aus, denn schon in Nachbarländern wie Belgien oder Holland werden nur die eigenen Seeleute gratis immunisiert. Weltweit gibt es nur wenige Staaten, darunter die USA, die Seeleute unabhängig von ihrer Herkunft kostenfrei immunisieren. »Obwohl es keine Alternative zur Impfung gibt«, moniert Hille.

Das Telefon klingelt. Es ist ein Schiffsmakler, der die Hälfte einer Crew, die nur noch kurz im Hafen ist, impfen lassen will. Hille checkt kurz die Pläne, geht zum Impfteam hinüber. Dann gibt er grünes Licht, um die fünf oder sechs Seeleute aus Osteuropa zwischenzuschieben. Hochmotiviert und flexibel seien die Impfteams, lobt Hille und erklärt das Prozedere. »Hier wird immer nur eine Hälfte der Crew geimpft, um das Schiff bei heftigen Impfreaktionen auf alle Fälle noch manövrieren zu können. Beim nächsten Einlaufen ist dann die zweite Hälfte der Crew dran.«

Als Faustregel gilt derzeit, dass alle Besatzungen mit langen Passagen mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson immunisiert werden, für den eine einzige Impfung ausreicht. Besatzungen, die mit ihren Schiffen den Hamburger Hafen regelmäßig anlaufen, können hingegen zwischen zwei oder drei Impfstoffen wählen. Die medizinischen Impfteams stehen ihnen dabei beratend zur Seite. Für die Seeleute sei die Impfung die einzige Chance, aus dem Kreislauf der latenten Kasernierung rauszukommen, sagt die Ärztin, die anonym bleiben will. »Dabei helfen wir nur zu gern.«

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