- Politik
- 11. September in der Literatur
Alles weg – und doch nicht losgelöst
Literatur zu den Anschlägen in den USA vor 20 Jahren füllt etliche Regalmeter. Ein wirklich treffender Roman stammt von Thomas Pynchon
»Bleeding Edge« ist aber ein Stück weit auch eine Satire auf gängige 9/11-Narrative und dazugehörige Verschwörungstheorien. Letztere spielen im literarischen Oeuvre Pynchons ja von jeher eine wichtige Rolle und werden hier in einen komplizierten, manchmal fast nicht mehr überschaubaren Plot mit unzähligen Personen und zahlreichen ineinander verwobenen Handlungssträngen gepackt. Im Zentrum des Romans steht die zertifizierte Betrugsprüferin Maxine Tarnow, eine alleinerziehende Mutter, die im Nachklapp zur Internetblase an den Börsen Anfang des Jahrtausends gegen verschiedene Unternehmen ermittelt, unter anderem gegen die Sicherheitsfirma »hashslingrz«. Maxine sieht sich einem großen Chaos miteinander verknüpfter Firmen und Subunternehmen gegenüber, die allesamt nichts von der kreativen Aufbruchstimmung der Digitalindustrie vergangener Tage haben, sondern Ausdruck von Kapitalmaximierung und einer neuen Sicherheitspolitik sind. Maxines Ermittlungen führen sie immer wieder zu Geheimdiensten, zwielichtigen Figuren, aber auch zu skurrilen Charakteren à la Thomas Pynchon wie einem Ermittler mit übernatürlichem Geruchssinn. Mitten in diesem Wirrwarr landet Maxine irgendwann auf einer wilden Party der Dotcomindustrie, die immer noch so ausgelassen feiert, als gäbe es kein Morgen. Kurz danach kommt es zum Anschlag auf das World Trade Center. »Alle sind noch ganz benommen – sie haben in den vergangenen Tag vor Fernsehern stehend oder sitzend verbracht, zu Hause, in Bars, am Arbeitsplatz, sie haben gestarrt wie Zombies und waren außerstande, das, was sie da sahen, zu verarbeiten. Ein Volk von Zusehern, zurückgeworfen in seinen Standardzustand – sprachlos, wehrlos, heillos verängstigt.«
Thomas Pynchon entwirft in »Bleeding Edge« ein überbordendes New Yorker Großstadtpanorama vom Fahrradkurier über eine Millionärsgattin bis zur hin zur linken Bloggerin. Bis durch den Terroranschlag das Leben in der Stadt von einem Moment auf den anderen in Schockstarre fällt. Eine gigantische Rauchsäule hängt über Manhattan und die Angst, ob es Freunden und Angehörigen gut geht, ist plötzlich das Einzige, was zählt. Pynchon fängt das Trauma in seiner Stadt New York sehr einfühlsam ein. Und die nie schlafende Metropole verändert sich in den Wochen danach spürbar. Es gehen die Diskussionen los, was da eigentlich passiert ist und wie es jetzt weitergeht. Was bedeutet dieser Einschnitt? Überall hängen plötzlich US-Flaggen, es werden patriotische Reden geschwungen, rassistische Kommentare sind auf der Straße vermehrt zu hören und die meisten von Pynchons Figuren beobachten sehr misstrauisch und voller Sorgen diese neue Entwicklung. Der Sicherheitsdiskurs spielt mit einem Mal eine alles überschattende Rolle. Der Staat rüstet munter auf und Pynchon berichtet davon, wie sich das im Großstadtalltag anfühlt. »New Yorks Polizisten sind schon immer arrogant gewesen, doch in letzter Zeit haben sie sich angewöhnt, auf dem Bürgersteig zu parken und Zivilisten grundlos anzubrüllen, und jedes Mal, wenn irgendein Bürschchen über ein Drehkreuz springt, stehen die U-Bahn-Züge still, und Einsatzfahrzeuge eilen zu Land und in der Luft zum Tatort und gehen in Stellung.«
Thomas Pynchon erzählt in »Bleeding Edge« vom alles verändernden Terroranschlag auf das World Trade Center als einem Ereignis, das nicht losgelöst ist vom Rest der Geschichte. Nach der ökonomischen Krise, die im Platzen der Dotcom-Blase kulminiert, ist der 9/11 Ausdruck einer tiefen politischen Krise, die einen zuvor vor allem in New York schon allgegenwärtigen Diskurs um sicherheitspolitische Fragen verschärft. Das Ereignis des 9/11 ist in Pynchons Narrativ damit weniger die große historische Trennlinie, als die sie für gewöhnlich gedeutet wird, sondern vielmehr Teil einer kontinuierlichen politischen und historischen Entwicklung, die überdies eng mit der Geschichte des Big Apple verzahnt wird. Exemplifiziert wird das auch am späteren Trump-Berater und damaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani, dessen Zero-Tolerance-Politik das Leben im Big Apple nachhaltig veränderte. Wobei dieser ordnungspolitische Rechtsruck auch Teil einer kapitalorientierten Inwertsetzungsstrategie ist. »Das schmierige südliche Ende, an das sie sich aus ihrer leichtfertigeren Jugend erinnert, ist die längste Zeit schmierig gewesen; Giuliani, seine Stadtentwickler-Freunde und die Kräfte vorstädtischer Rechtschaffenheit haben es in ein steriles Disneyfield verwandelt: Man hat die melancholischen Bars, die Cholesterin- und Fettschleudern und die Pornokinos abgerissen oder renoviert, man hat die Ungekämmten, Unbehausten, Unvertretenen vertrieben, es gibt keine Drogenhändler, Zuhälter oder Hütchenspielartisten mehr, nicht mal mehr die alten Spielhallen mit schwänzenden Schulkindern – alles weg.« Dazu kommen Nationalismus und ein politischer Rechtsruck, der sich am Horizont als eine nicht zu unterschätzende Bedrohung abzeichnet, womit Pynchon in diesem Roman, der auch eine Liebeserklärung an seine Stadt New York ist, fast vorausschauend auf die einige Jahre später folgende Ära Trump verweist. Insofern ist der doppeldeutige Titel des Romans »Bleeding Edge«, was auf Deutsch sowohl »Auf dem neuesten Stand« als auch »Blutige Kante« heißt, auch aus heutiger Sicht wirklich treffend.
Thomas Pynchon: »Bleeding Edge«, Rowohlt-Taschenbuch, 608 S., 12,99 €.
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