- Politik
- 11. September / Kriminalpolitik in Deutschland
Täter ohne Tat
Mit der Erfindung der Figur des Gefährders nach 9/11 entfernt sich die Arbeit der Polizei immer weiter von rechtsstaatlichen Grundsätzen
Die Anschläge vom 11. September haben die Kriminalpolitik in Deutschland nachhaltig verändert. Seitdem hat sich ein weit ausgeprägter Präventionismus durchgesetzt. Das betrifft die polizeiliche Praxis, aber auch das Recht. So versucht die Polizei, besonders vorausschauend zu agieren, um Straftaten zu verhindern, noch bevor sie geschehen.
9/11 hat die Fehlbarkeit polizeilicher und geheimdienstlicher Überwachungs- und Kontrollstrategien evident gemacht. Öffentliche Vorwürfe, dass eine bessere Aufklärungsarbeit im Vorfeld die Anschläge vielleicht hätte verhindern helfen können, ließen die Vorstellung von den Terroristen als nicht identifizierbaren, da perfekt an ihre Umgebung angepassten Schläfern innerpolizeilich schnell als unzureichend erscheinen. So entsteht nach 9/11 der Verdacht ohne konkretes Verdachtsmoment, der Täter ohne Tat, die Sanktion ohne Verurteilung - auch unterhalb der Schwelle des Terrorismus. Mit unserem klassischen Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat das nicht mehr viel zu tun.
Als paradigmatische Figur für diese Entwicklung steht der Gefährder. Er - ihn gibt es semantisch nur in männlicher Form - wird nach 9/11 vom Staatsschutz erfunden. Ganz im Sinne der zunehmend präventiven Ausgestaltung der Kriminalpolitik ist sein Gebrauch mit dem Ziel verbunden, wieder «vor die Lage» zu kommen, d.h. einzugreifen, noch bevor ein Attentat geschehen kann. Dennoch steht die Einführung des Gefährders nicht einfach für eine Intensivierung des alten präventiven Musters, sondern zusätzlich für eine neuartige präventive Logik. Die soll im Feld des Terrorismus breit gestreute Ermittlungen und Überwachungen ermöglichen.
Wer ist ein Gefährder?
Gefährder ist laut Polizei jede Person, «bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird». Gemeint sind laut Definition Straftaten, «die mindestens im Bereich der mittleren Kriminalität» angesiedelt sind«. Damit ermittelt der Staatsschutz - also der operative Teil der Polizei, jener, der politisch motivierte Straftaten verfolgt - dort, wo bis dahin der Verfassungsschutz tätig war, also weit im Vorfeld von Straftaten. Mit dem Gefährder beschränkt sich die Arbeit der Polizei daher nicht mehr allein auf das terroristische Vorfeld. Sie wird mit quasi-geheimdienstlichen Kompetenzen nunmehr im Vor-Vorfeld aktiv.
Staatsschutzabteilungen setzen so nicht mehr ausschließlich bei einer begangenen Tat oder einem konkreten Verdacht an. Die Unterscheidung zwischen legalem und illegalem Verhalten entfällt. Vielmehr kategorisiert die Polizei Personen als Gefährder, von denen sie vermutet, dass diese zukünftig zu Täter*innen werden könnten. Ausgangspunkt der Ermittlungen ist eine nicht näher konkretisierbare und nur möglicherweise sich ausbildende diffuse Gefährlichkeit einer Person.
Der klassische Rechtsbegriff des Tatverdächtigen, der die Polizeiarbeit bisher geleitet hatte, wird so erweitert: um die einer konkreten Person zugeordnete Vorstellung einer drohenden Gefahr. Dies verbreitert das Verständnis von Verdacht und Kontrolle in einem Maße, das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen kaum mehr kompatibel ist. Erkenntnisse, die bis dahin nur dazu dienten, Gefährdungslagen zu beurteilen, werden mit Einführung des Gefährderbegriffs verfolgbar. Ob Kontakte zu anderen Personen, Reiseaktivitäten oder Verhalten - all dies kann als verdächtig erachtet werden. Die Ermittler*innen interessieren sich etwa für Personen, denen eine Nähe zu islamistischen Positionen oder islamistisch ausgerichteten Personen zugesprochen wird, die ein persönliches Naheverhältnis zu anderen Gefährdern oder verurteilten Islamist*innen haben, solchen, die sich an radikalislamischen Veranstaltungen beteiligen und/oder für Personen, die zum Islam konvertierten. Ebenfalls können Personen, die in Zusammenhang mit kleineren Delikten auffällig wurden, ins polizeiliche Raster geraten.
9/11 bescherte Geheimdiensten und Polizei mehr Möglichkeiten der Überwachung. Der Ausbau begann aber schon davor - und er geht weiter
Für die Betroffenen hat dies massive Konsequenzen: Durch die Einstufung können sie punktuell oder lückenlos überwacht werden. In einigen Fällen greifen aktivitätseinschränkende Maßnahmen; wenn keine deutsche bzw. eine nachträglich erworbene deutsche Staatsbürgerschaft vorliegt, auch mittels des Aufenthaltsgesetzes. Gefährder können abgeschoben oder ihr Aufenthaltsstatus auf das Niveau der Duldung herabgestuft werden. Sie können in Geflüchteten-Unterkünften festgesetzt, mit täglichen oder wöchentlichen Meldeauflagen bei der Ausländerbehörde und einem Arbeitsverbot belegt werden. Auch die Verwendung von öffentlichen Medien und Kommunikationsmitteln kann verboten werden.
Das Vorfeld des Vorfelds des Vorfelds
Seit Juni 2017 droht als Gefährder eingestuften Personen die elektronische Fußfessel. Bayern geht sogar noch einen Schritt weiter: Hier ist die unbegrenzte Präventivhaft möglich. All diese Grundrechtseinschränkungen, ohne dass überhaupt eine Straftat begangen wurde. Anders gesagt: Fast-Verdächtige werden aufgrund von nicht mehr als Vermutungen zu Fast-Täter*innen, die de facto Sanktionen unterliegen.
Verschärfungen von Sicherheitsmaßnahmen erfolgen oft nach einem ähnlichen Muster: Einwänden und Befürchtungen wird entgegnet, dass die Innovationen sich nur auf wenige, besonders schwere Straftaten richteten. Doch mit großer Regelmäßigkeit kommt es bei Konzepten und Maßnahmen, die für die »harten Fälle« eingeführt werden, später zu einer Ausweitung in weniger schwerwiegende Deliktsbereiche. So auch beim Gefährder. Seit 2005 arbeitet die Polizei mit dem Konzept auch im Bereich Links- und Rechtsextremismus. Zum anderen regt der Gefährder zu erweiterten Ermittlungen an. Es entsteht die Kategorie der »relevanten Person«, die Personen erfasst, die dem Umfeld des Gefährders und somit einem Vor-Vor-Vorfeld zuzurechnen sind.
Mit der Novellierung der Polizeigesetze der Länder findet der Gefährder ab 2018 verklausuliert Anwendung auf die gesamte Bevölkerung. In seinem BKA-Urteil von 2016 hat das Bundesverfassungsgericht den Gefährder mit dem Begriff der »drohenden Gefahr« implizit erstmals rechtlich umschrieben - allerdings ausschließlich auf Terrorismus bezogen. Im Bayerischen Polizeigesetz (PAG) wird diese nun auf Delikte unterhalb des Terrorismus ausgeweitet.
Das PAG diente in Variationen als Blaupause für viele andere Bundesländer. Es bestimmt in Artikel 11 Absatz 3, dass die Polizei Maßnahmen treffen kann, wenn mit »konkreter Wahrscheinlichkeit« Hinweise vorliegen, dass »in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind«. Die mit größter Abstraktheit formulierte Gesetzesregelung schafft damit ein Instrument für verallgemeinerte präventive Eingriffe, die für beliebige Projektionen von Gefahr offen ist. So kamen kurz nach Einführung dieser Bestimmungen mehrere Geflüchtete für bis zu zwei Wochen ohne Anzeige und Rechtsbeistand in Gewahrsam, nachdem sie in Schweinfurt an einer Auseinandersetzung mit der Polizei in einer Erstaufnahmeeinrichtung beteiligt waren. Die Polizei hatte in der Einrichtung einen Ladendieb gesucht, wobei es laut Medienberichten zu einem Gerangel gekommen war, bei dem eine Plastikflasche geworfen wurde - Delikte, die ohne den Begriff der »drohenden Gefahr« keine Inhaftierung zur Folge gehabt hätten. Waren bislang anscheinend immer Geflüchtete von der Anwendung des PAG betroffen, sieht man dieser Tage - wahrscheinlich erstmals - eine Anwendung auf Protest. So wurden neun Klimaaktivist*innen, die mit Blockaden an der Autobahn gegen die in München stattfindende Automesse IAA protestierten, für voraussichtlich fünf Tage in Präventivhaft genommen.
Das Wuchern der Gefahr
Der Blick auf die Sicherheitsarchitektur, auf kriminalpolitische Praktiken und Denkweisen 20 Jahre nach 9/11 lässt einen deutlichen Wandel erkennen: Sie bringt eine Form der Sicherheitssorge mit sich, die an manchen Stellen Gefahr läuft, in Willkür umzuschlagen, da sie sich von einem klassischen Verständnis liberaler Rechtsstaatlichkeit verabschiedet hat. Konkret ist das Prinzip der Unschuldsvermutung bis zum rechtskräftigen Urteil und das Prinzip der Strafbarkeit versuchter oder vollendeter pönalisierter Handlungen gemeint. Dabei geht es hier bislang nicht um einen quantitativen Wandel - wenngleich die Zahl der Gefährdereinstufungen im Bereich des islamistischen Terrorismus seit Einführung des Begriffs kontinuierlich zugenommen hat. 2019 waren laut Bundeskriminalamt 681 islamistische, 43 rechtsextremistische und fünf linksextremistische Personen als Gefährder eingestuft. Auch über eine breite Anwendung des Artikels 11 Absatz 3 im Bayerischen PAG ist nichts bekannt. Das mindert jedoch nicht die Relevanz der Veränderungen. Entscheidend ist die Aufgabe von Prinzipien, die grundsätzlich gelten sollten, zugunsten einer polizeilichen Praxis und eines Rechts, die sich zunehmend an außerrechtlichen und damit politischen Kriterien orientieren. Je nach politischer Konstellation lassen sich diese rechtlichen Möglichkeiten weit über den Bereich des islamistischen Terrorismus hinaus ausdehnen.
Deutschland geht hier keinen Sonderweg. In vielen Ländern gibt es ähnliche Entwicklungen, nicht zuletzt dank aktiver Werbung seitens der deutschen Behörden. Zuerst hat Österreich, zuletzt die Schweiz den Gefährderbegriff übernommen.
Die Autorin ist Professorin für Kultursoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg und assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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