Eine Vereinigung, die keiner kennt

Prozess gegen Antifaschisten in Dresden begonnen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Solange Fotografen vor Beginn der Verhandlung im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts (OLG) Dresden gegen vier Antifaschisten noch Bilder machen, hält sich der Angeklagte Lennard A. eine Broschüre vor das Gesicht. Sie heißt »Unter den Teppich gekehrt«, wurde 2017 von Kulturbüro Sachsen veröffentlicht und beleuchtet das Unterstützernetzwerk der einstigen rechten Terrorzelle NSU in Sachsen. Dieses sei, heißt es im Klappentext, öffentlich »kaum beleuchtet« worden - eben: unter den Teppich gekehrt.

Nazigegner in diesem Land erleben oft, dass die politische Auseinandersetzung mit rechten Strukturen und die juristische Verfolgung ihrer Straftaten arg zu wünschen übrig lassen. Viele beklagen das. Den vier Angeklagten im diesen Mittwoch begonnenen Prozess aber wird vorgeworfen, die Ahndung quasi in die eigenen Hände genommen zu haben. Sie sollen Rechtsextreme überfallen haben - in Überzahl, überraschend und ausgerüstet mit Schlagwerkzeugen, um sie »erheblich zu verletzen«, heißt es in der Anklage. Die Taten seien meist sorgfältig geplant worden. Hintergrund sei eine den Beteiligten gemeinsame »militante linksextremistische Ideologie«.

Ein Muster ist bei den sechs Vorfällen, um die es geht und bei denen 13 Menschen teils lebensgefährliche Verletzungen erlitten, nicht zu erkennen. Mal wurde ein Handwerker in Leipzig zusammengeschlagen, der eine Mütze eines rechten Modelabels trug, mal eine Gruppe von Nazis, die im Februar 2020 von einer rechten Demonstration zum 75. Jahrestag der Zerstörung Dresdens kamen. Mal traf es den Wirt einer Nazikneipe in Eisenach, mal einen NPD-Funktionär in Leipzig. Gelegentlich heißt es, bei den Überfällen sei eine Liste von Tatbeteiligten beim so genannten »Sturm auf Connewitz« abgearbeitet worden, bei dem am 11. Januar 2016 über 200 Nazis den alternativen Leipziger Stadtteil angegriffen hatten. Die Prozesse gegen die Mittäter an sächsischen Amtsgerichten ziehen sich seit Jahren hin und enden nach halbherzigen Geständnissen in aller Regel mit Bewährungsstrafen. Allerdings passen nur zwei der nun in Dresden angeklagten Taten in dieses vermeintliche Muster einer »Vergeltung für Connewitz«, darunter ein Überfall, der aber kurzfristig abgeblasen wurde.

»In dem Prozess gegen vier Antifaschisten in Dresden soll stellvertretend für eine – manchmal eben auch militante und unbequeme – Bewegung ein Exempel statuiert werden.«

Eine kriminelle Vereinigung?

Der Prozess gegen die drei 26-jährigen und den 36-jährigen Angeklagten, von denen drei in Connewitz wohnen, findet nicht an einem Amts-, sondern am Oberlandesgericht statt. Ankläger ist nicht ein sächsischer Staats-, sondern der Bundesanwalt. Der Prozess ist damit einer der bedeutendsten in der Bundesrepublik gegen eine linksautonome Gruppierung seit Jahren. Bundesanwalt Bodo Vogler sagte zur Begründung, die Taten hätten das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen. Mit der Absage an den ausschließlich friedlichen politischen Meinungsstreit hätten sie an den »Grundpfeilern des Rechtsstaats gerüttelt«. Diese Einschätzung der Behörde sei ein »Skandal«, sagen Kritiker*innen wie die Jenaer Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, die aufzählt, welche Gruppierungen die Bundesanwaltschaft »nicht als derart staatsgefährdend ansah«: Neonazivereinigungen wie Freie Kameradschaft Dresden, Hooligans Elbflorenz, den NSU 2.0 und Täter wie den »Moscheebomber« von Dresden.

Schon bei den Ermittlungen gegen die vier angeklagten und mindestens fünf weitere, bisher nicht angeklagte Antifaschisten wurde zum ganz großen Besteck gegriffen: Sie wurden als kriminelle Vereinigung nach Paragraf 129 eingestuft. Das ermöglichte umfassende Abhör- und Observationsmöglichkeiten. Die Verteidiger halten den Vorwurf für hanebüchen - zumal selbst die Anklage einräumt, dass »keine streng hierarchische Struktur oder starre Rollenverteilung« zu erkennen sei. Dennoch ist wiederholt von der Umsetzung eines »Vereinigungsziels« die Rede, das aber nirgendwo niedergeschrieben ist. Rechtsanwalt Erkan Zünbül spricht von »Einzelauseinandersetzungen«, die »keine Gefahr für den Staat« darstellten; einer seiner Kollegen von einer »Vereinigung, die keiner kennt«.

»Chef-Chaotin im Minirock«

Um das Konstrukt zu untermauern, macht die Anklage die einzige Frau unter den mutmaßlichen Tätern zu einer Anführerin. Der Prozess wird als Verfahren »gegen Lina E. und andere« angekündigt. In der Anklage wird der in Kassel gebürtigen 26-Jährigen, die Erziehungswissenschaften studierte, eine »herausgehobene Stellung« zugeschrieben, was aber ansonsten nur von dem Umstand untersetzt wird, dass sie »in zwei Fällen als Kommandogeberin« agiert habe. Gleichwohl sitzt sie als einzige der vier in Untersuchungshaft, und zwar bereits seit zehn Monaten. Um ihr den Haftbefehl zu eröffnen, wurde sie per Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen und dort in Handschellen vorgeführt. Viele Medien griffen dies auf und schrieben etwa von der »Chef-Chaotin im Minirock«. Focus Online setzte sie unter der Überschrift »Frauenknast extrem« gar mit der verurteilten NSU-Mörderin Beate Zschäpe gleich, die wie Lina E. in der JVA Chemnitz sitzt. Die Berichterstattung führe zu einer »Vorverurteilung, die ihresgleichen sucht«, sagt E.s Anwalt Ulrich von Klinggräff.

In der linken Szene ist Lina E. derweil zu einer Ikone geworden. Ihr Name prangt in Leipzig und anderswo auf Hauswänden; die Parole »Free Lina« stand auf Transparenten bei einer Kundgebung zum Prozessauftakt. Und wenn sie von drei Wachtmeistern in Handschellen in den Gerichtssaal geführt wird, jubeln ihre Unterstützer. Applaus gibt es indes auch für die drei Mitangeklagten. Wie Lennard A. reagiert, ist unklar. Sein Gesicht ist versteckt hinter der Broschüre - die Vorwurf und Mahnung ist.

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