»Es gibt ja auch keine ›Männerliteratur‹«

Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert analysiert, wie das literarische Schaffen von Frauen abgewertet wird - auch in der Gegenwart

  • Isabella A. Caldart
  • Lesedauer: 6 Min.

Bevor wir auf den Inhalt Ihres Buches zu sprechen kommen, erst mal zu Cover und Titel: Das Wort »Frauen« in »Frauen Literatur« ist durchgestrichen. Warum?

Es symbolisiert zum einen, dass Frauen in der Literaturgeschichte nicht vorkommen, weil sie aktiv aus dem Kanon geschmissen wurden, und zum anderen, dass es den Begriff »Frauenliteratur« nicht braucht. Es gibt ja auch keine »Männerliteratur« und es ist Quatsch, nach Geschlechtern zu unterscheiden. »Frauenliteratur« wird nur verwendet, um sie von »richtiger Literatur« abzugrenzen.

Vor knapp zwei Jahren haben Sie zusammen mit der Autorin Berit Glanz einen Artikel auf »Spiegel Online« veröffentlicht, für den Sie den Frauenanteil in belletristischen Verlagen gezählt haben. Was war der Auslöser?

Die Universität Rostock hat eine Studie veröffentlicht, in der nachgewiesen wurde, dass Autorinnen in sämtlichen Medien außer Frauenzeitschriften unterrepräsentiert sind, insbesondere im Feuilleton. Unsere Frage war: Entspricht das dem Verhältnis von dem, was veröffentlicht wird? Mithilfe vieler Twitter-User*innen haben wir gezielt die Programme von literarischen Verlagen untersucht, in dem Fall denen, die in den letzten Jahren für den Deutschen Buchpreis nominierte Titel hatten oder auf der SWR-Bestenliste zu finden waren. Unterm Strich wurden bei den Neuerscheinungen 60 Prozent Männer und 40 Prozent Frauen veröffentlicht. Man könnte denken: Ist doch nah beieinander! Aber de facto bedeutet das, dass in literarischen Programmen 50 Prozent mehr Männer erscheinen.

Bei dieser Relation könnte man argumentieren, es ginge gerecht zu, wenn auch mehr Autoren statt Autorinnen rezensiert werden.

Nur ist der Anteil der Männer, die im Feuilleton von etwa der »FAZ« oder »Süddeutschen« besprochen werden, noch höher. Und die Studie hat noch etwas sehr Wichtiges festgestellt, nämlich dass männliche Rezensenten zum überwiegenden Teil Autoren besprechen, während die Quote bei Rezensentinnen ausgewogen ist. Es ist, als würden Frauen nur für Frauen schreiben, Männer aber für alle.

Sie haben eben schon die Kanonisierung von Schriftstellerinnen angesprochen. Dem gängigen Argument, sie würden weniger kanonisiert, weil sie weniger geschrieben hätten, stimmen Sie gleichzeitig zu und nicht zu. Können Sie das erläutern?

Es wurde Frauen früher tatsächlich untersagt, bestimmte Berufe zu ergreifen, und dazu gehörte auch das Schreiben. Das wirkte lange nach, es war verpönt, dass adlige oder bürgerliche Frauen schrieben - auch wenn viele das heimlich taten -, während Frauen in niedrigeren Klassen die Bildung fehlte. Insofern waren es weniger. Aber die, die es gab, wurden bis auf Ausnahmen nicht in den Kanon aufgenommen oder überhaupt literarisch anerkannt. Das kann man in Deutschland am Beispiel des ersten Romans einer Frau, »Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim« von Sophie von La Roche, erkennen: Er wurde von Anfang an als nicht ernstzunehmende Literatur dargestellt. Und so ging es weiter, bis heute.

Sie sagen, dass die nicht-kanonisierten Autorinnen nicht vergessen wurden, sondern aktiv verdrängt.

Es ist eine aktive, wertende Entscheidung. Seit ich mich so auf Literatur von Frauen konzentriere, ist mir aufgefallen, dass sie in ihren Romanen oft Missstände anprangern. Das passt Männern beziehungsweise der vorherrschenden patriarchalen Ordnung nicht in den Kram. Die US-amerikanische Literaturwissenschaft hat den Kanon in den 70er Jahren richtiggehend revidiert und nicht nur Romane von Frauen, sondern auch von BIPoC (Schwarzen, Indigenen und Personen of Color, Anm. d. Red.) aufgenommen, sodass diese Literatur in den 90er Jahren, als ich studiert habe, dann schon gelehrt wurde.

Im Zuge dessen wurde festgestellt, dass früher den Romanen, in denen es um Unterdrückung, Sklaverei oder Kolonisierung geht, nicht die gleiche literarische Qualität zugeschrieben wurde. Wenn man einen Roman bespricht, muss man sich ja mit dem Inhalt befassen. Aber wie soll das gehen, ohne letztlich auch Verantwortung für die darin beschriebenen Missstände zu übernehmen? Die ästhetischen Argumente sind sehr oft nur vorgeschoben. Das ist der wahre Grund dafür, dass diese Bücher nicht in die Literaturgeschichte oder in Lehrpläne aufgenommen oder von Verlagen wieder aufgelegt wurden.

Viele sind dagegen, bei der Wahl der Lektüre das Geschlecht des Schreibenden zu berücksichtigen, weil sie vermeintlich nur auf literarische Qualität achten, sprich nicht voreingenommen seien. Sie zeigen auf, dass das unbewusst aber durchaus so ist. Inwiefern?

Weil das unsere vorherrschende Kultur ist, die an niemandem spurlos vorbeigeht. Noch heute lernt man in der Schule indirekt, dass die einzig wertvolle Literatur die von Männern ist, denn Autorinnen kommen so gut wie nicht vor.

Deswegen ist es naiv zu sagen, man ginge nach persönlichem Geschmack. Und auch den kann man hinterfragen, weil er entstanden ist durch gesellschaftliche Abwertung, durch die jahrtausendealte Misogynie, die in unsere Kultur seit den Alten Griechen eingeschrieben ist. Das ist heute noch allgegenwärtig. Man sieht im Umgang mit Annalena Baerbock oder in jeder Sonntagabend-Talkshow, wie viel Mühe männliche Politiker haben, sich von Frauen etwas sagen zu lassen, ihnen zuzuhören, ohne sie zu unterbrechen und auf das, was sie sagen, einzugehen. Misogynie ist so omnipräsent, dass man sie bei sich selbst nicht bemerkt - es sei denn, man macht sie sich bewusst.

Mit Verweis auf die Bücherlisten und Kanons von Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Denis Scheck stellen Sie zwei Fragen, die ich wiederum Ihnen stellen möchte: »Kennen die Kritiker vielleicht einfach nicht genug Autorinnen? Oder finden sie sie nur nicht relevant?«

Ganz bestimmt beides. Wir alle, also auch Kritiker*innen, kennen zu wenige Autorinnen, weil sie schon in der Schule und im Studium kaum vorkommen. Ich finde es krass, wie relativ hilflos Kritiker oft vor den Romanen von Autorinnen stehen, weil sie nicht wissen, womit sie sie vergleichen können. Sie kennen Traditionen weiblichen Schreibens nicht. Wenn man einen Roman trotzdem bespricht, sollte man sich jedenfalls dieses fehlenden Wissens bewusst sein.

Die meisten Verleger*innen zeigen sich offen dafür oder bezeichnen es sogar als »erstrebenswert«, beim Zusammenstellen ihrer Programme mehr auf Diversität und Geschlechtergerechtigkeit zu achten, während das in den Feuilletons nicht der Fall ist. Warum ist der Unterschied so groß?

Ganz gelöst habe ich das Rätsel auch noch nicht. Verlage sind Wirtschaftsunternehmen und dem Zeitgeist gegenüber entsprechend offener, während im Feuilleton gewertet wird. Dazu kommt, dass die sozialen Medien und Blogger*innen insbesondere von den sehr großen, etablierten Feuilletons als Konkurrenz, als Gefahr wahrgenommen werden. Vor der Kritik, die dort geäußert wird, werden die Augen verschlossen. Aber bisher hat sich der Fortschritt immer durchgesetzt, ich glaube nicht, dass das eine gute Strategie ist. Es ist ja auch eine Altersfrage, man braucht nur auf jüngere Generationen zu schauen, für die vieles, was im Feuilleton noch nicht mal diskutiert wird, längst selbstverständlich ist.

Nicole Seifert: Frauen Literatur. KiWi, 224 S., geb., 18 €.
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