Die Legende von der Renteneinheit

Warum mit dem jüngsten Rentenüberleitungsgesetz die Altersbezüge im Osten sinken

  • Hans Mittelbach
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Bundesregierung verkündete vor einiger Zeit stolz: »Soziale Einheit bis 2025 vollendet: Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall wird in der Rente die Einheit vollendet. Über sechs Millionen Menschen aus den neuen Bundesländern zahlen derzeit in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Sie werden davon profitieren, dass es künftig keine Unterschiede mehr bei der Berechnung der Rente gibt. Ab 2025 wird die Rente in ganz Deutschland einheitlich berechnet.«

Doch obwohl bis 2024 die aktuellen Rentenwerte Ost an die Rentenwerte West angeglichen werden sollen, werden durch die Neuberechnung der ostdeutschen Entgeltpunkte die ostdeutschen Rentenerträge für die gleiche Arbeit um etwa zehn Prozent niedriger ausfallen.

Dr. Hans Mittelbach

Dr. Hans Mittelbach, Jahrgang 1935, ist Wirtschaftswissenschaftler. In der DDR arbeitete er im Ökonomischen Forschungsinstitut der Staatlichen Plankommission sowie unter anderem als Sektorenleiter für Sozialpolitik an der Akademie der Wissenschaften. Auch nach der deutschen Vereinigung beschäftigte er sich publizistisch mit sozialpolitischen Themen; unter anderem veröffentlichte er das Buch »Lohn- und Kapitaleinkommen in Deutschland 1990 bis 2010«.

Warum ist das so? Im Unterschied zu den seit 30 Jahren gültigen rentenrechtlichen Regelungen wurde willkürlich festgelegt, dass die Hochwertungsfaktoren in linear absteigender Linie von 1,1479 im Jahr 2016 auf 1,0 im Jahr 2025 abgesenkt werden sollen. Unabhängig davon, ob sich bis 2024 der Durchschnittslohn Ost schon real an den Durchschnittslohn West angeglichen hat. Da dies voraussichtlich auch bis 2025 nicht der Fall sein wird, kommt es durch die im neuen Gesetz festgelegte fiktive lineare Abschmelzung des Hochwertungsfaktors dazu, dass die ostdeutschen Rentenerträge sinken. Für die künftigen ostdeutschen Rentner bedeutet dies konkret: wenn sie nach den seit 30 Jahren gültigen rentenrechtlichen Regelungen 1000 Euro im Monat erhalten haben und der Rentenertrag um zehn Prozent sinkt, dann sind das pro Monat 100 Euro und pro Jahr 1200 Euro weniger. Im volkswirtschaftlichen Maßstab addiert sich dies auf mehrere Milliarden Euro weniger.

Es ist daher nicht wahr, wenn festgestellt wird, dass die sechs Millionen ostdeutschen Rentner »davon profitieren werden, dass es künftig in Deutschland keine Unterschiede mehr bei der Berechnung der Rente gibt«. Dies wäre nur dann der Fall, wenn bis 2025 parallel zur fiktiven Angleichung eine reale Angleichung der ostdeutschen Durchschnittslöhne an das westdeutsche Niveau erfolgen würde. Solange aber die ostdeutschen Löhne für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf niedriger als die westdeutschen Löhne sind, ist es gerecht und richtig, bei der Entgeltpunkte-Berechnung die niedrigeren Löhne Ost durch den niedrigeren Durchschnittslohn Ost oder mit Hochrechnung durch den höheren Durchschnittslohn West zu dividieren. Wenn diese Änderungen im Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz nicht stattfinden, ist das Gesetz eine Mogelpackung.

Die Anhebung der ostdeutschen aktuellen Rentenwerte an das Westniveau führt zwar zu einer Erhöhung der ostdeutschen Rentenerträge. Da aber die vorgesehene neue Berechnung der ostdeutschen Entgeltpunkte zu einer viel größeren Absenkung führt, werden die Renten der künftigen ostdeutschen Rentner durch das neue Gesetz besonders ab 2025 drastisch sinken.

Das bestätigt auch Josef Schott, einer der Autoren des Rentenüberleitungs-Abschlussgesetzes: »Für etwa sechs Millionen Arbeitnehmer im Osten bedeutet die Neuregelung aber, dass sie in Zukunft etwas schlechter gestellt sein werden als heute: die bisherige Hochwertung der Ostlöhne auf das Westniveau und der darin enthaltene Vorteil gegenüber einem Arbeitnehmer im Westen entfällt schrittweise und ab dem Januar 2025 vollständig. Vor allem die jüngere Arbeitnehmergeneration im Osten wird ihre vergleichsweise niedrigeren Löhne verstärkt mit in die zukünftige Rente nehmen.«

Josef Schott rechtfertigt die Schlechterstellung der ostdeutschen Arbeitnehmer mit der angeblichen Bevorteilung der ostdeutschen Arbeitnehmer durch die sogenannte Hochwertung der niedrigeren ostdeutschen Löhne auf das Westniveau, wodurch die westdeutschen Arbeitnehmer angeblich benachteiligt werden. Seine Begründung lautet: »Bei gleicher Beitragsleistung im Jahr 2016 erwirbt ein Arbeitnehmer in den neuen Ländern derzeit einen um nahezu zehn Prozent höheren Rentenanspruch als ein vergleichbarer Arbeitnehmer in den alten Bundesländern.« Diese Bevorteilung der ostdeutschen Rentner versucht Josef Schott durch eine Berechnung nachzuweisen, dass die ostdeutschen Rentner für einen gleich hohen Jahreslohn von 35880 Euro durch die Hochrechnung mit dem Faktor 1,470 einen 9,8 Prozent höheren Rentenertrag erzielen.

Dieses Ergebnis kommt jedoch nur zustande, weil nicht von den unterschiedlich hohen Löhnen für die gleiche Arbeit im gleichen Beruf ausgegangen wird. Selbstverständlich gibt es in Ost und West Arbeitnehmer, die das gleiche Jahresentgelt in Höhe von 35880 Euro verdienen. Das wird in der Regel aber nur der Fall sein, wenn ostdeutsche Arbeitnehmer in einer Branche tätig sind, in der eine Lohnangleichung bereits erfolgt ist. Dies ist aber auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eher die Ausnahme als die Regel. Eine Hochrechnung, die von gleich hohen Löhnen in Ost und West ohne Bezug zum Beruf und der Tätigkeit ausgeht, kann nur manipulierte Absicht sein, um eine Bevorteilung ostdeutscher Rentner nachweisen zu können.

Die Jahresentgelte der ostdeutschen Beitragszahler für gleiche Arbeit im gleichen Beruf waren in den vergangenen 30 Jahren stets niedriger als die der westdeutschen Beitragszahler. Nach der Rentenstatistik lag der Durchschnittslohn in den neuen Ländern auch im Jahre 2016 noch um 13 Prozent niedriger als der Durchschnittslohn in den alten Bundesländern. (Geht man von der Bruttolohnstatistik für die Vollzeit-Beschäftigten im gewerblichen Bereich aus, so war 2016 der Durchschnittslohn Ost sogar noch um 22 Prozent niedriger als der Durchschnittslohn West.)

Selbst wenn man bei der Vergleichsrechnung nur von einem um 13 Prozent niedrigeren Lohn für die gleiche Arbeit ausgeht, ist der ostdeutsche Rentenertrag trotz Hochrechnung immer noch um 4,4 Prozent niedriger als der Rentenertrag West. Diese Berechnungen zeigen, dass eine Bevorteilung der ostdeutschen Rentner auch mit Hochrechnung nicht zutrifft. Eine Bevorteilung ergäbe sich nur dann, wenn in den letzten Jahren eine flächendeckende Lohnangleichung erfolgt wäre, was nicht der Fall ist.

Nicht eine vermeintliche Hochrechnung der niedrigeren ostdeutschen Löhne ist das Problem, sondern die seit 30 Jahren in Ostdeutschland bestehende Lohnungleichheit bei gleicher Arbeit im gleichen Beruf. Von den zu niedrigen Löhnen hat vorwiegend die Wirtschaft profitiert. Jedes Jahr wurden Lohnkosten im hohen zweistelligen Milliardenbereich eingespart. Wird die im beschlossenen Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz vorgesehene Neuberechnung der ostdeutschen Entgeltpunkte nicht korrigiert, gilt für die künftigen ostdeutschen Beitragszahler nicht nur 45 Jahre Lohnunrecht, sondern es kommen noch 20 Jahre Rentenunrecht dazu. Gleiche Löhne für die gleiche Arbeit ist ein von der Uno erklärtes Menschenrecht, dessen Einhaltung seit 30 Jahren deutsche Einheit überfällig ist.

Außerdem: Die in den alten Bundesländern vorherrschende Meinung, dass die Ostdeutschen infolge Niedriglohn und längerer Arbeitslosigkeit weniger zur Finanzierung der gesamtdeutschen Renten beigetragen haben, ist auch aus einem anderen Grund nicht zutreffend. Die alten Bundesländer haben 70 Jahre in hohem Maße von der Zuwanderung gut ausgebildeter Beitragszahler aus Ostdeutschland profitiert. Von 1949 bis 1961 sind 2,7 Millionen, von 1962 bis 1988 immerhin 665 000 und seit der deutschen Einheit zwei Millionen Menschen von Ost- nach Westdeutschland abgewandert. Die Zuwanderer wurden auf Kosten der ostdeutschen Bevölkerung ausgebildet.

Die ausbleibende Angleichung der Löhne wirkt sich nicht nur negativ auf die künftigen ostdeutschen Renten aus. Das Institut Prognos Basel sieht in der jüngsten Studie in der ungleichen demografischen Entwicklung den wesentlichen Hemmfaktor für den Aufholprozess Ost. Die Abwanderung von Ost nach West wird künftig wieder zunehmen, wenn sich bis 2025 die Löhne nicht angleichen und die Rentenanwartschaften durch das neue Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz für die künftigen ostdeutschen Rentner zusätzlich um acht bis zehn Prozent unter das bisherige Niveau absinken werden.

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