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Verquere Bio-Boheme
Der Journalist Andreas Speit hat reaktionäre Traditionen in alternativen Milieus untersucht. Dass es gefährliche Weltbilder nicht nur bei Rechten gibt, habe sich auch bei den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gezeigt
Für eine bundesweite Demonstration am ersten Augustsonntag in Berlin hatte »Querdenken 711« rund 22 000 Personen angemeldet. Der Senat untersagte die Veranstaltung der nach der Stuttgarter Telefonvorwahl benannten Initiative, ebenso wie zahlreiche kleinere Kundgebungen zum gleichen Termin. Denn bei früheren Aufmärschen dieser Art waren Auflagen wie Maskenpflicht und Abstandhalten regelmäßig ignoriert worden. Trotz gerichtlich bestätigter Verbote gab es erneut Proteste; die Polizei stand einer Menschenmenge gegenüber, die sie keinem eindeutigen politischen Lager zuordnen konnte.
Die selbst ernannte »Querdenker-Bewegung« ist ein buntes Mosaik, sie ist alles andere als homogen zusammengesetzt und keineswegs ein gesellschaftliches Randphänomen. Die sie tragenden Gruppierungen kommen aus verschiedenen Schichten und politischen Spektren. Untereinander haben sie dennoch wenig Berührungsängste: Impfgegnerinnen stehen auf den Veranstaltungen neben AfD-Anhängern, Identitäre demonstrieren zusammen mit Anthroposophen, Reichsbürger schwenken die Fahne des deutschen Kaiserreichs, in unmittelbarer Nähe winken Esoterikerinnen mit der Regenbogenflagge.
In der Szene derjenigen, die das Coronavirus und seine gesundheitlichen Auswirkungen leugnen oder zumindest die staatlichen Maßnahmen dagegen für übertrieben halten, ist die Präsenz bürgerlich-alternativer Strömungen ein auffälliges Merkmal. Wer sich für den Schutz der Natur oder von Tieren engagiert, sich vegetarisch ernährt oder seine Kinder auf eine Waldorfschule schickt, muss nicht, kann aber durchaus anfällig sein für Verschwörungserzählungen und reaktionäres Gedankengut. Der Hamburger Sozialökonom und Journalist Andreas Speit, der seit Jahren zu Rechtsextremismus und Rechtspopulismus forscht, hat dieses Milieu und sein Umfeld in seinem neuen Buch »Verqueres Denken« genauer untersucht.
In Deutschland sei »eine neue Lebensreformbewegung entstanden«, schreibt Speit. Diese suche »nach alternativen Wegen und geht sie auch: Nachhaltigkeit, recyceln, aufarbeiten und sharen sind im Trend: Rad statt Auto, vegan statt Fleisch, Öko-Bekleidung statt Billigware, handgemacht statt industriell, regional und saisonal statt global und permanent, Ökostrom statt Atomstrom.« Der Klimawandel sorgt für ein Gefühl von Dringlichkeit und Endzeitstimmung, die Digitalisierung der Arbeitswelt verstärkt die Sehnsucht nach Langsamkeit und Einfachheit. Die Lebensreformer stellen nicht nur ihr eigenes Verhalten um, auch von den politisch Verantwortlichen erwarten sie eine Richtungsänderung.
Vergessene Denktraditionen
Die eingeforderte Art, anders zu konsumieren, kostet allerdings Geld. Es sei »eine Umkehr für alle, die es sich leisten können«, kommentiert Speit. Dem »Gutmenschen-Bashing«, wie es das konservative Feuilleton bisweilen pflegt, will er sich aber keinesfalls anschließen. Vielmehr möchte er aufzeigen, dass bei der Suche nach ökologisch verträglichen Lösungen, der Hinwendung zur Spiritualität, der Begeisterung für Heilmethoden jenseits der Schulmedizin oder dem Plädoyer für Tierrechte auch »antihumanistische Argumentationen und antiemanzipatorische Ressentiments virulent sind«. »Alternativ und rechts«, so seine Kernthese, habe eine »lange und nahezu vergessene Tradition«.
Deutungsmuster aus der ersten Lebensreformbewegung im 19. Jahrhundert tauchen derzeit wieder auf. Diese wandte sich, beeinflusst von der deutschen Romantik, gegen Industrialisierung, Materialismus und Urbanität. Schon damals wurde beklagt, dass der Mensch sich von sich selbst und von der Natur entfremde. Erste gemeinschaftlich orientierte Siedlungsprojekte entstanden, meist im ländlichen Raum. Reformhäuser, die Vorläufer der heutigen Biomärkte, verkauften gesunde Nahrungsmittel - von der breiten Öffentlichkeit wurden die Betreiber und ihre Kundinnen als »Kohlrabi-Apostel« belächelt. In die harmlosen Proteste gegen rationale Logik und die Zumutungen der Moderne mischten sich, so Speit, aber auch Elemente von »Antisemitismus bis Antifeminismus«.
In der zweiten Phase der Lebensreform, die nach den Studierendenprotesten in Westdeutschland Ende der 1960er Jahre und der sich später daraus entwickelnden Alternativkultur entstand, gab es dazu Parallelen - und ähnlich irritierende Untertöne. So waren an der Gründung der grünen Partei im Jahr 1980 an einflussreicher Stelle völkische und nationalkonservative Strömungen beteiligt, erst später verloren diese Kräfte an Bedeutung. Wie lange rückwärts gerichtete Traditionen nachwirken können, zeigte sich nun auch während der Pandemie.
Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Ergebnisse der im Dezember 2020 veröffentlichten Studie »Politische Soziologie der Corona-Proteste« der Universität Basel, einer der ersten wissenschaftlichen Analysen zum Thema. In (allerdings nicht repräsentativen) Umfragen auf der Straße, die durch Online-Erhebungen erhärtet wurden, gaben erstaunliche 23 Prozent der Demonstrierenden an, bei der letzten Bundestagswahl die Grünen gewählt zu haben. 16 Prozent hatten ihr Kreuz gar bei der Linkspartei gemacht, nur 15 Prozent bei der AfD. Das Forschungsteam charakterisiert die untersuchte Gruppe als gut ausgebildet, beruflich etabliert und gesellschaftlich integriert. Es handele sich um Menschen, die »von links kommen, aber nach rechts gehen«.
Antisemitische Tierschützer
Detailliert leuchtet Speits Buch Teilmilieus aus. Er beschreibt die spirituellen Neigungen in der großstädtischen »Bio-Boheme«, analysiert die ausgeprägte Impfskepsis unter Frauen und Müttern, die mit der Alternativmedizin sympathisieren und homöopathische Arzneimittel bevorzugen. Er widmet sich den »Ambivalenzen der Anthroposophie«, kritisiert das rückwärtsgewandte, von rassistischen Ressentiments geprägte Denken des Begründers Rudolf Steiner und dessen Verbindungen zum Nationalsozialismus - ohne das gesamte Umfeld der Waldorfpädagogik pauschal in eine extreme Ecke zu stellen. Und er berichtet über die »völkische Landnahme« rechter Familien, die in der strukturschwachen ostdeutschen Provinz versuchen, ganze Dörfer zu vereinnahmen.
Alarmierend sind die Rechercheergebnisse zu den ideologischen Grundlagen der militanten Tierschutzverbände. Den Fleischverzehr anprangernde Organisationen wie Peta, Animal Peace oder Anonymous für the Voiceless sind in der Vergangenheit immer wieder durch skandalöse Vergleiche wie »der Holocaust auf dem Teller« aufgefallen. Attila Hildmann, der Verfasser von Bestsellern zur veganen Ernährung und als »hipper Gesundheitskoch« eine Weile in Fernsehsendungen omnipräsent, reiht in seinen Posts und Onlinevideos mittlerweile eine Verschwörungserzählung an die nächste. Er war im vergangenen Jahr eine der prominentesten Figuren bei den Corona-Protesten, politisch ist er aber längst am äußersten rechten Rand angekommen und mittlerweile mutmaßlich in der Türkei untergetaucht, um sich der Strafverfolgung durch die deutschen Behörden zu entziehen. In einer Botschaft auf seinem Kanal beim Messengerdienst Telegram, den rund 120 000 Menschen abonniert haben, schimpft er zum Beispiel: »Es ist eine Plan-Demie, es ist ein Staatsstreich, und der Jude hat uns, der kompletten Menschheit, den Krieg erklärt, er will eine jüdische Weltdiktatur.«
Mit antisemitischen Äußerungen dieser Art ist Hildmann kein Einzelfall, auch wenn sich gemäßigte »Querdenker« von ihm distanziert haben. Der Journalist und Extremismusforscher Speit warnt: Die gefährlichen Weltbilder, die manche mit der (selbstverständlich legitimen) Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung verknüpfen, bergen für ihn ein erhebliches Potenzial für eine weitere Radikalisierung.
Andreas Speit: Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus. Christoph-Links-Verlag, 240 S., br., 18 €.
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