Der verkannte Poet

»Hier ist ein Dichter, hört nur!«: Ein großartiger Band würdigt Leben und Werk von Louis Fürnberg

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Am Anfang zählte unter den Poeten nur einer: Rilke. Louis Fürnberg war 17, als er aufbrach, um den Verehrten aufzusuchen. All die schönen volksliedhaften Zeilen im Kopf, die frühen Verse des Dichters, das Herz »von tausend Taumeln benommen«, pilgerte er 1926 ins Schweizer Wallis und hinauf zum Château Muzot.

Er hatte Glück: Rilke, schon sterbenskrank, bat ihn herein, und Fürnberg sah, was nur wenige zu sehen bekamen: Den engen Turm, die steile Treppe, die winzigen Fenster, den schlichten Holztisch im Esszimmer, die spartanisch eingerichteten, kühlen Räume. Rilke fragte ihn nach dem Woher und Wohin, der Gast erzählte, man unterhielt sich eine Weile, dann stieg Fürnberg wieder hinunter ins Tal, im Ohr die leise Stimme des anderen. Ein halbes Jahr später las er die Nachricht von Rilkes Tod, er war traurig und liebte dessen Poesie weiter, aber er lebte in Zuständen, die sich vom aristokratischen Milieu des bewunderten Dichters stark unterschieden.

Die Bilder der Kindheit wurde er nicht los. Fürnberg verbrachte, geboren 1909 als Sohn eines jüdischen Fabrikanten im mährischen Iglau, seine Schulzeit im noblen Karlsbad; er hatte ständig das Gefühl, er müsste ersticken in den »geschmacklosen, barocken Zimmern« mit ihren Perserfauteuils und fürchterlichen Möbeln – es sei, schrieb er, ein Totenhaus, das ihn beherberge, im Keller rieche es nach Moder.

Der Gymnasiast suchte Rettung in der Dichtung, er schrieb Spottverse auf Lehrer und Mitschüler, stieß zur Sozialistischen Jugend, wurde Lehrling in einer Porzellanfabrik, lernte die tschechische Dichtung kennen, las, noch keine 20 Jahre alt, Marx und Lenin, erkrankte schwer, ging 1928 nach Prag, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und löste sich immer mehr von seiner Herkunft. 1932 gründete er eine proletarische Spieltruppe, »Echo von links«, und nannte sich nun Nuntius, der Bote.

Als die Nazis Böhmen und Mähren okkupierten, warfen sie ihn ins Gefängnis und zertrümmerten ihm das Gehör. Er kam wieder frei, verbrachte leidvolle Exiljahre in Palästina, war nach dem Krieg Botschaftsrat der Tschechoslowakei in der DDR, übersiedelte 1954 nach Weimar, wo er, nur 48 Jahre alt, Ende Juni 1957 starb.

Louis Fürnberg war ein hochsensibler Mann und wunderbarer Dichter, ein Poet, der »ein Werk hohen Ranges« hinterließ, wie Stephan Hermlin am Grab sagte. Zarte, schlichte, melodiöse Gedichte von stiller Kraft und eine Prosa voller Grazie, zu deren besten Stücken die »Mozart-Novelle« gehört. »Und heute ist er vergessen oder wird, schlimmer noch, nur genannt, wenn man ein besonders absurdes Beispiel für Parteidichtung braucht, denn auch das hat er ja geschrieben, das ›Lied von der Partei‹ …« Mitten in ihrem 2010 erschienenen Buch »Stadt der Engel« kam Christa Wolf auf Fürnberg zu sprechen, der sie einst beharrlich ermuntert und angespornt hatte (»Bitte, Christa, hab keine Komplexe, sondern schreibe!«).

Mit ihm, einem »glühenden Kommunisten«, begann »der lange Weg der Erkenntnis«, das Wissen um die Verwerfungen und Katastrophen des Jahrhunderts, die Barbarei der Nazis und die Schrecken des Exils, die nach 1945, in den Jahren des Stalin’schen Personenkults, nicht enden wollten. Ihre Erinnerung, zweieinhalb Druckseiten lang, steht jetzt noch einmal in einem Band des Quartus-Verlages, der, herausgegeben von Ulrich Kaufmann und Harald Heydrich, Texte zu Leben und Werk Fürnbergs vorstellt.

Es ist ein starkes, wunderbares Plädoyer für den heute verkannten Dichter und zugleich eine Offenbarung. Denn in diesem Buch, das alte und neue Texte, klug gegliedert, bündelt, wird er wirklich kenntlich: mit seinem unbeirrten Glauben an eine sozialistische Zukunft und den bitteren Erfahrungen eines Juden, der auch nach dem Krieg seine Ängste nicht losgeworden ist. Selbst wer in der sechsbändigen Ausgabe seiner Lyrik, Prosa und Publizistik (1963–1973) und den beiden Briefbänden (1986) aus dem Aufbau-Verlag gelesen hat, wird überrascht sein, wie viel Neues dieser großartige Band bietet.

Ein Wort Arnold Zweigs, des Gefährten im palästinensischen Exil, gibt dem Buch den Titel: »Hier ist ein Dichter, hört nur!« Unterstrichen wird das Urteil mit Aufsätzen von Gerhard Wolf, Hans Mayer, Dieter Schiller oder Ulrich Kaufmann zu den Dichtungen und Novellen sowie Beiträgen, die Henri Poschmann oder Wulf Kirsten 2009 zum 100. Geburtstag Fürnbergs veröffentlicht haben. Es gibt Stimmen der Zeitgenossen, etwa Eckart Krumbholz’ sympathische Aufzeichnungen von 1976 (»Nachhilfestunden bei Louis Fürnberg«) oder Franz Fühmanns Würdigung von 1967, Texte von Eduard Goldstücker, Ludvík Kundera, Andreas Reimann und Steffen Mensching.

Hervorhebenswert die vielen biografischen Auskünfte, die dieser Band bietet: Ulrich Kaufmanns Schilderung der Jahre in Palästina mit ihrem aggressiven Zionismus und einer erstaunlichen Produktivität; Katrin Lemkes Erinnerung an die Freundschaft ihrer Großeltern mit dem Dichter und die gefährlichen Zeiten nach Hitlers Einverleibung der Tschechoslowakei; Volkhard Knigges Bericht über die schwierige Suche nach einem Gedenkort, der schließlich auf dem Ettersberg gefunden wurde, wo man nun im ehemaligen Konzentrationslager Bibliothek und Arbeitszimmer Fürnbergs besichtigen kann; oder Jan Gerbers intensiver Blick auf jenes Gedicht, das mit seiner Refrainzeile »Die Partei hat immer recht« die heimliche Hymne der SED wurde.

Fürnberg hat offenbar geahnt, dass ihm die Verse einmal schaden würden. Er wollte, weil man ihn im Mai 1949 nicht zum Parteitag in Prag zugelassen hatte, seine Treue zur KPČ bekunden, der er seit 1928 angehörte. Die Demütigung, gegen die er sich mit seinen beschwörenden Zeilen wehrte, kündigte schon das kommende Unheil an.

Es ging, erzählte seine Witwe Lotte Fürnberg später, gegen den Deutschen, es ging auch gegen den Juden, den Weltbürger. 1951 wurden in einem berüchtigten Prager Prozess auf Betreiben Moskaus Rudolf Slánský, der Generalsekretär der Partei, sowie die gesamte Elite der KPČ wegen verräterischer, zionistischer Verschwörung zum Tode verurteilt. Auch Botschafter Otto Fischl, Fürnbergs Vorgesetzter, wurde hingerichtet. Andere, darunter viele jüdische Freunde Fürnbergs, landeten im Zuchthaus. Er selber, von seinem Posten abberufen und nun Persona non grata, musste, abgeschoben ins Schulministerium, nach Prag zurück.

Seine Tragik sei, schrieb er ins Tagebuch, »daß ich ein deutscher Dichter und ein tschechoslowakischer Diplomat bin, ein nie zu lösender Zwiespalt …«. 1954 konnte er, forciert von F. C. Weiskopf und anderen, mit Billigung der DDR-Führung nach Weimar übersiedeln. Er wurde stellvertretender Direktor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur. Weimar war seine Rettung, er bezog ein Haus in der Rainer-Maria-Rilke-Straße, aber glücklich ist er in den stalinistisch geprägten, konfliktreichen Jahren, wie man bei Ulrich Kaufmann lesen kann, auch hier nicht geworden. Die Bedrückungen blieben.

Dann, mitten im Sommer 1955, ein Herzinfarkt, der erste. Er lag im Krankenzimmer und dachte an Thomas Mann und dessen Hans Castorp, das Sorgenkind des Lebens, und auch an Rilkes Malte Laurids Brigge, »die schöne literarische Schwermut über Tod und Krankheit«. Rilke war die Lichtgestalt gewesen, bei ihm hatte er die formalen Möglichkeiten studiert, Knappheit und Prägnanz der lyrischen Sprache, um sie fürs eigene Dichten nutzbar zu machen.

Aber er hatte sich auch von ihm entfernt. Rilke sprach vom »Lebensdienst am Tode«. Und er hatte geschrieben: »Keiner kann Keinem Gefährte sein.« Die jähe Reaktion auf diesen Gedanken, wird Fürnberg am Ende seiner »Krankengeschichte« 1955 gestehen, wuchs sich »zum Konflikt aus zwischen dem tief bestürzten Gewissen und einer ihre logischen Prämissen enthaltenen Pflicht«. Einen weiteren Herzinfarkt hat Fürnberg 1957 nicht überlebt. Er starb, heißt es bei Christa Wolf, wie viele andere Dichter, die aus dem Exil zurückgekehrt waren, an »gebrochenem Herzen«.

»Hier ist ein Dichter, hört nur!« Louis Fürnberg. Texte zu Leben und Werk, hg. von Ulrich Kaufmann und Harald Heydrich, unter Mitarbeit von Michael und Alena Fürnberg. Quartus-Verlag, 352 S., geb., 24,90 €.

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