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Jede Stimme zählt
In diesem Jahr dürfen erstmals Menschen mit Behinderung wählen, die eine rechtliche Betreuung in allen Angelegenheiten haben. Auch Janina Steinig kann nun wie alle anderen Bürger*innen wählen
Wenn Janina Steinig eine Frage zu den Bundestagswahlen gestellt wird, antwortet sie kurz und präzise. Ist es gut, dass du wählen darfst? Ja. Hast du dich über die Wahlen informiert? Ja. Weißt du, wen du wählen möchtest? Ja. Auch auf detailliertere Fragen antwortet sie genau. Dann stellt sie Gegenfragen. Auf jede Frage kommt auch eine Gegenfrage. Kurz vor der Bundestagswahl könnte dieses Gespräch ein ganz gewöhnliches sein. Eben so, wie es unter politisch interessierten Menschen geführt wird. Doch ganz so gewöhnlich ist das nicht.
Denn Janina Steinig hat das Down-Syndrom. Eigentlich führt die 34-Jährige damit ein ziemlich selbstbestimmtes Leben: Sie hat einen Job in einer Behindertenwerkstatt, den sie gewissenhaft macht. Sie geht regelmäßig ihren verschiedenen Hobbys nach. Und sie trifft sich mit ihren Freund*innen. In einigen Situationen braucht sie jedoch Unterstützung. Daher hat sie eine rechtliche Betreuung in allen Angelegenheiten, wie es im Gesetz heißt. Bei Janina Steinig haben das ihre Eltern übernommen. Die kümmern sich um ihre Arzttermine, gehen mit ihr zu Behörden oder helfen ihr, sich an neue Dinge zu gewöhnen. So wie an ein neues Smartphone. Denn ihr geliebtes Handy möchte sie eigentlich nicht gegen ein neues eintauschen. Das alte Nokia ist sie gewohnt. Damit telefoniert sie, verschickt SMS. Als ihre Mutter Gisela ihr schließlich doch ein Smartphone gekauft hat, wollte sie erst nichts davon wissen. Nun lernt sie jeden Tag, was man damit machen kann. Aber das braucht einfach ein wenig Zeit.
Per Gesetz von Wahlen ausgeschlossen
Bis vor einem knappen Jahr waren vollbetreute Menschen wie Janina Steinig von den Bundestagswahlen ausgeschlossen. Begründet wurde das damit, dass diese nicht in der Lage seien, politische Entscheidungen zu treffen und wählen zu gehen. Ihre Wahlentscheidung sei außerdem leicht manipulierbar, sagen Kritiker*innen des inklusiven Wahlrechts. Damit stand die Regelung jedoch im Widerspruch zu der UN-Behindertenrechtskonvention, die auch Deutschland unterschrieben hat. Denn laut Artikel 29 müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. Das Bundesverfassungsgericht kippte schließlich die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse und der Bundestag stimmte im Mai 2019 mehrheitlich für eine Gesetzesänderung. Nun dürfen rund 85 000 Menschen in rechtlicher Vollbetreuung in Deutschland erstmals bei der Bundestagswahl ihr Wahlrecht wahrnehmen.
Janina Steinig ist stolz, dass auch sie wählen darf und ihre Stimme zählt. Tatsächlich hat die Aachenerin schon an Kommunal- und Landtagswahlen sowie an der Europawahl teilgenommen. Möglich war das, weil in Nordrhein-Westfalen bereits seit Längerem ein anderes, ein inklusives Wahlrecht gilt. Dort dürfen auch Menschen mit Vollbetreuung wählen. Wenn sie dabei Unterstützung brauchen, dürfen sie eine Wahlassistenz mit in die Kabine nehmen. Bei Janina Steinig macht das ihre Mutter. Denn Janina kann zwar lesen, aber die vielen Ankreuzmöglichkeiten können schnell für Verwirrung sorgen, sagt ihre Mutter. Probleme habe das im Wahllokal noch nie gegeben, erklärt sie. Dort scheint es selbstverständlich, dass Mutter und Tochter zusammen in eine Wahlkabine gehen. Denn die beiden sind in dem kleinen Aachener Ortsteil, in dem sie leben, bekannt. Die Menschen aus dem Wahlvorstand kennen Mutter und Tochter persönlich. Viele der Wähler*innen ebenfalls. Beide sind im Laufe der Jahre in zahlreichen Vereinen aktiv gewesen. Janina Steinig war bei den Pfadfindern, sie macht Sport, geht tanzen.
Politisch informiert
Auch wenn Janina Steinig eine rechtliche Betreuung hat und eine Wahlassistenz benötigt, bedeutet das nicht, dass sie keine Ahnung vom Weltgeschehen hat oder sich keine politische Meinung bilden kann. Denn das kann sie durchaus. Dafür verfolgt sie regelmäßig die Nachrichten, stellt Fragen und informiert sich vor Wahlen. Sie kenne natürlich auch Politiker*innen, erzählt sie. Einige von ihnen hat sie sogar persönlich getroffen. Wenn man sie nach Namen fragt, nennt sie ohne lange nachzudenken Ulla Schmidt und Martin Schulz. Sie weiß genau, wer Bundeskanzlerin oder -kanzler werden möchte. Und sie kennt die Direktkandidat*innen aus ihrem Wahlkreis, die dieses Mal in den Bundestag möchten.
In der Behindertenwerkstatt, in der sie arbeitet, hat sie einige getroffen und sich ein Bild von ihnen gemacht. Dort haben alle Mitarbeitenden über die Wahlen gesprochen und die Politiker*innen gefragt, wofür sie sich im Bundestag einsetzen wollen. Zusätzlich hat Janina Steinig zu Hause mit ihrer Mutter die Wahlwerbung der einzelnen Parteien gelesen. Sie redeten viel darüber, wofür sich welche Partei einsetzt und wer die Partei vertritt. Gemeinsam haben sie dann ausführlich die Vor- und Nachteile der einzelnen Wahlprogramme diskutiert. Auch wenn das ein wenig gedauert hat, haben die beiden nichts ausgelassen.
Auf die Frage, ob ihre Mutter ihr auch in diesem Jahr wieder helfe, den Wahlzettel auszufüllen, sagt sie: »Ja, der Brief ist schon weg. Ich habe Briefwahl gemacht.« Dann sagt sie für eine Weile nichts mehr. Ihre Mutter habe aber den Zettel in den Umschlag gesteckt und weggebracht, sagt sie leise.
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Sie klingt schüchtern, wenn sie das erzählt. Fast so, als ob sie ihren Fähigkeiten nicht traut. Dabei ist es ihr auch in diesem Jahr nicht schwergefallen, sich eine Meinung zu bilden. Als ihre Mutter ihr den Wahlzettel zeigte und die Parteien nannte, sagte sie sofort, welche sie auf gar keinen Fall wählen würde. Janina Steinig hat ihrer Mutter erzählt, dass sie auf gar keinen Fall die AfD wählen werde, weil das, wie sie sagt, »wie Hitler ist«.
Es war schnell klar, bei welchem Direktkandidaten sie ihr Kreuzchen setzt und welche Partei die Zweitstimme erhält. Alles habe sie ganz klar erklärt, erzählt Gisela Steinig. Warum dieser Kandidat? Warum diese Partei? Jede ihrer Antworten habe sie genau begründen können. Wichtig war ihr dabei vor allem, wie sich jemand für Menschen mit Behinderungen einsetzt. Ihre Mutter hat ihr dabei nicht reingeredet. Selbstverständlich dürfe ihre Tochter selbst entscheiden. Und so hat Janina Steinig dann auch gewählt, wie sie es zuvor entschieden hat.
Ob ihr Wunschkandidat und ihre Wunschpartei tatsächlich die Mehrheit erlangen, wird sie am Sonntag mit Spannung verfolgen. Regelmäßig fragt sie ihre Mutter, wie es weitergeht. Daher wird sie sich auch am Wahlabend mit ihren Eltern wieder vor den Fernseher setzen und die Berichterstattung verfolgen. Hochrechnungen, Interviews mit Politiker*innen oder die Stimmen von anderen Wähler*innen: Janina Steinig möchte alles wissen.
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