Abholkommandos in der Nacht

Speziale Einsatzkräfte sorgen in hessischen Gemeinschaftsunterkünften für Angst und Schrecken

Der Vorfall, der sich in Witzenhausen am 31. März ereignete, hatte etwas Befremdliches. Um 0.15 Uhr sollte eine 68-jährige Frau aus Armenien abgeholt werden, und zwar nicht von einem Streifenwagen oder zwei, sondern von Sondereinsatzkräften der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE). Auch wenn die Frau in der Gemeinschaftsunterkunft Am Frauenmarkt nicht angetroffen wurde und die Abschiebung misslang, so hat das martialische Vorgehen der Polizei ein Nachspiel im Landtag. Die Linksfraktion hat den Fall als Anlass für eine Kleine Anfragen an die Landesregierung genommen. Zuletzt gab es nämlich häufiger Meldungen über umstrittene nächtliche Abschiebungen mit Sondereinsatzkräften.

Das Innenministerium versucht offenbar, mit den Antworten zu beschwichtigen. «In Einzelfällen» könne es auch zu Rückführungen zur Nachtzeit kommen, heißt es. Dies liege vor allem an der Terminierung der Flugverbindungen, auf die kein Einfluss genommen werden könne. Aber tatsächlich sind nächtliche Abschiebungen alles andere als Einzelfälle: 2019 wurden laut der Antwort des Ministeriums insgesamt 1106 Abschiebungen nachts eingeleitet, das waren zwei Drittel der gesamten Rückführungen in dem Bundesland. Im Jahr 2020 sank die Zahl auf 317, das ist aber noch immer jede fünfte Rückführung.

«Die Begründung des Innenministeriums, warum die Abschiebemaßnahmen nachts durchgeführt werden müssten, sind schwer nachvollziehbar», erklärt Saadet Sönmez, integrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion. Das Aufenthaltsgesetz sieht in Paragraf 58 Abs. 7 vor, dass Wohnungen zum Zwecke der Abschiebung nur in wenigen begründeten Fällen betreten und durchsucht werden dürfen. Tatsachen müssen vorliegen, «aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung anderenfalls vereitelt wird», heißt es darin. Organisatorische Fragen wie die Flugzeiten seien aber kein Grund, Menschen nachts abzuholen, sagt Sönmez.

Nun beruft sich das Ministerium aber gar nicht auf diesen Schutzparagrafen, sondern verweist aufs hessische Landesrecht, wonach die Polizei Wohnungen betreten und durchsuchen darf, sofern es «der Zweck der zwangsweisen Durchsetzung des ordnungsbehördlichen oder polizeilichen Verwaltungsaktes erfordert» (Paragraf 38 Abs. 1 im Hessischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes – HSOG). Rechtlich ist die Begründung zweifelhaft, denn die aufenthaltsrechtliche Regelung sei die speziellere, so Sönmez, folglich dürfe das HSOG hier keine Anwendung finden. Das betonte das Verwaltungsgericht Gießen mit einem Urteil im November 2019 ausdrücklich.

Während in Sachsen die schwarz-rot-grüne Koalition derzeit über die nächtlichen Abschiebungen streitet – SPD und Grüne dringen darauf, dass Familien mit Kindern verschont werden sollen –, so ist die Abschiebepraxis in Hessen in der schwarz-grünen Koalition bislang noch kein Thema. Bezeichnend dafür ist, dass die Grünen sich dazu gegenüber «nd» nicht äußern wollen; die innenpolitische Sprecherin Eva Goldbach sei in den Wahlkampf eingebunden, hieß es.

Bei der versuchten Abschiebung der 68-jährigen Armenierin in Witzenhausen rechtfertigt die Landesregierung den Einsatz der BFE damit, dass es dort zuletzt «mehrfach zu Blockaden und Verhinderungsaktionen» bei «rechtmäßigen» Abschiebungen gekommen sei und man auch in diesem Fall mit «erheblichen Widerständen bei der Durchführung der Abschiebung gerechnet» habe.

Diese Begründung für den Einsatz der Sondereinheit ist absurd«, meint Noelia Loose vom Arbeitskreis Asyl in Witzenhausen. Sie erzählt von einem Abschiebeversuch aus dem Jahr 2018, der für besondere Aufmerksamkeit sorgte. Als Polizisten in der Nacht zum 23. April den Syrer Bangin H. abholten, stellten sich Dutzende Menschen dem Einsatzwagen entgegen. Doch erst als er auf dem Weg zum Flughafen nach Frankfurt war, wurde die Rückführung gestoppt, weil eine Anwältin interveniert hatte.

»Der Abschiebungsversuch war von Beginn an rechtswidrig, was bereits in der Wohnung anhand vorliegender Dokumente gezeigt werden konnte«, sagt Loose. »Die Menschen, die daraufhin Zivilcourage zeigten und sich vor den Einsatzwagen stellten, indirekt dafür verantwortlich zu machen, dass drei Jahre später nachts eine alleinstehende alte Frau mit einer BFE-Einheit abgeschoben werden sollte, wirkt etwas konstruiert.« Dies trage auch dazu bei, dass der Protest gegen die Abschiebepraxis insgesamt kriminalisiert werde.

Bislang sei bei der Armenierin kein weiterer Rückführungsversuch unternommen worden, erzählt Loose. »Trotzdem schafft jeder Abschiebeversuch eine enorme Unsicherheit bei Betroffenen, weil unklar ist, ob die Polizei morgen Nacht wieder in der Unterkunft stehen wird.«

Der BFE-Einsatz im März in Witzenhausen war indes kein Einzelfall. Die Behörden setzten in den Jahren 2019 und 2020 in Hessen insgesamt 19-mal solche Greiftrupps bei Abschiebungen ein. Weitere 8-mal wurden Spezialeinsatzkommandos angefordert, die laut der Landesregierung immer dann zum Einsatz kommen, wenn Gefahren drohen oder die Einsätze in besonderen Situationen stattfinden.

Für Sönmez sind die Sondereinsatzkräfte Zeichen einer »gnadenlose Abschiebepolitik«, die mitunter verheerende Auswirkungen bei Betroffenen hat. Immer wieder kommt es bei Abschiebeversuchen nämlich zu Selbstverletzungen und Suizidversuchen. Im Jahr 2019 hat es nach Kenntnis der Landesregierung neun solcher Vorfälle gegeben, im Jahr zuvor acht, wobei kein Mensch gestorben sei, so die Antwort auf eine weitere Kleine Anfrage der Linken.

Anderthalb Wochen ist es erst her, als ein Pakistaner aus dem Fenster einer Darmstädter Flüchtlingsunterkunft flüchtete. Bei dem Sprung aus dem ersten Stock habe er sich schwer verletzt und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, sagte Samar Khan vom Hilfsverein »Wir sind Pakistan« der »Frankfurter Rundschau«. Tragisch dabei: Die Polizei kam nicht wegen ihm (er hat eine Duldung), sondern wegen eines anderen Mannes aus Pakistan, der abgeschoben werden sollte.

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