• Politik
  • Ergebnisse der Bundestagswahl

Die Linke braucht mehr als einen Neustart

Wahltaktische Schwächen sind die Folge tiefergehender Probleme und anhaltender strategischer Schwächen

  • Horst Kahrs
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Linke erlebte einen bitteren Wahlabend mit einem katastrophalen Ergebnis. Weit entfernt vom Wahlziel der Zweistelligkeit und des Rückenwindes für eine Regierungsbeteiligung scheitert sie mit 4,9 Prozent an der Sperrklausel. Sie verliert über zwei Millionen Stimmen, fast die Hälfte ihrer Stimmen von 2017. Wiederum etwa die Hälfte der verlorenen Stimmen ging an die beiden Wunschkoalitionspartner SPD und Grüne, so die vorläufigen Schätzungen von Infratest dimap.

Da die Partei aber in Leipzig (Sören Pellmann) und Berlin (Gesine Lötzsch, Gregor Gysi) drei Direktmandate verteidigen kann, zieht sie über die Grundmandatsklausel doch noch als Fraktion in den Bundestag ein. Der absolute worst case konnte so gerade noch vermieden werden.

In den fünf ostdeutschen Flächenländern erreicht die Linke nur noch in Thüringen (11,4 Prozent) und in Mecklenburg-Vorpommern mit 11,1 Prozent ein zweistelliges Ergebnis. In Brandenburg liegt sie mit 8,5 Prozent sogar hinter den Grünen (9,0 Prozent). Im Durchschnitt aller fünf Ländern reicht es nur noch für 9,8 Prozent. Harte innerparteiliche Kämpfe um die zukünftige Ausrichtung der Partei sind absehbar, blockierte innerparteiliche Konflikte harren der Auflösung.

Vordergründig können taktische Schwächen als Gründe für das Wahlergebnis ins Feld geführt werden. Die Orientierung, die »CDU aus der Regierung zu wählen«, richtete sich in dem Moment gegen die Urheber, als sich auch Mehrheiten mit der FDP oder auch von SPD und Grünen ohne die Union abzeichneten. Darauf folgte dann »Linke statt Lindner« als Partner für SPD und Grüne - die Umfragen gaben es aber nicht her, dass die Linke die FDP noch überholen und eine Mehrheit für SPD/Grüne/FDP verhindern könnte.

Das »Sofortprogramm« stellte erkennbar die Anliegen heraus, die von SPD und Grünen in hohem Maße geteilt werden würden. Doch warum sollte sich eine ostdeutsche Wählerin für die Forderung der Linken nach einem Mindestlohn von 13 Euro entscheiden, wenn ihr bereits die 12 Euro, die Olaf Scholz versprach, eine Erhöhung um mehr als 25 Prozent bringen würde?

Schließlich zeigte sich, dass Partei und Fraktion auf das angestrebte Ziel einer Regierungsbeteiligung alles andere als vorbereitet waren: Bei der »Afghanistan«-Abstimmung folgte das Votum des Parteivorstandes die mehrheitliche Enthaltung der Fraktion dem, was innerparteilich noch gerade möglich erschien, wofür die Außenwirkung in Kauf genommen wurde, dass die Linke (aus ideologischen/identitätspolitischen Gründen) nicht zustimmen würde, bedrohte Menschen vor den Taliban aus Kabul zu evakuieren.

Die Signalwirkung reichte noch weiter: Musste sich nicht die Krankenpflegerin, der die Linke höheres Gehalt versprach, die Frage stellen, ob dieses Anliegen im Zweifel nicht auch der innerparteilichen Identitätspolitik geopfert werden würde? Das offensive Werben für eine Regierungsbeteiligung mit dem Argument, dass die Menschen, die die Linke vertreten will, die Verbesserungen »jetzt« brauchen und nicht erst in weiter Ferne nach einem Systemwechsel, wurde ordentlich untergraben.

Tatsächlich sind diese wahltaktischen Schwächen nur die Folge tiefergehender Probleme und anhaltender strategischer Schwächen. Wie die CDU konnte auch die Linkspartei ihren Führungswechsel pandemiebedingt nicht rechtzeitig vor dem Wahltermin herbeiführen. So blieb der neuen Parteiführung kaum Zeit, noch eigene positive Akzente in Inhalt und Auftritt zu setzen und damit als Unterschied bekannt zu werden.

Gleichzeitig wurde dank des im April erschienenen neuen Buches von Sahra Wagenknecht die innere Zerstrittenheit der Partei über den künftigen Weg in die öffentliche und innerparteiliche Aufmerksamkeit geholt. Die Wahlniederlagen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg verhießen für die Bundestagswahl nichts Gutes, sondern offenbarten ebenfalls das Dilemma der Partei. Von der SPD waren (seit 2012) keine Wählerzuströme mehr zu erwarten, die Versuche, Wählerinnen der Grünen mit »konsequenteren« klimapolitischen Forderungen zu überzeugen, die Linke zu wählen, schienen ebenfalls wenig gewinnbringend, mit Blick auf die Bundestagswahl angesichts zugleich drohender Verluste an anderer Stelle sogar gefährlich.

Vorübergehende Gewinne in den »jungen urbanen Milieus« erwiesen sich als prekär, weil angesichts der »Wagenknecht-Debatten« unklar blieb: Wer spricht für die Partei? Angesichts der Altersstruktur der eigenen Anhängerschaft (und der gesamten Wählerschaft) war dieser Zuspruch allerdings eher ein Versprechen für die Zukunft, nicht aber eine Garantie für die Gegenwart - ohne die älteren Wählerinnen und Wähler waren Wahlen nicht zu gewinnen.

Da angesichts der innerparteilichen Blockade-Situation zwischen drei »Lagern« ein Schritt nach vorn ausgeschlossen war, konzentrierte sich der Wahlkampf auf das alle Strömungen integrierende sozialpolitische Stammgeschäft interessenspolitscher Forderungen sozialer Gerechtigkeit. Lange Zeit bewegte sich die Partei damit außerhalb des politischen Spielfeldes. Erst durch die steigenden Umfragewerte der SPD rückte die rechnerische Möglichkeit einer rot-grün-roten Regierung wieder in den Bereich des vielleicht Möglichen.

Es war dann Armin Laschet, es war nicht die Stärke der Linken, sondern die Schwäche der Union der im ersten »Triell« mit seiner Kampfansage gegen den »Linksrutsch« die Partei zurück auf das Spielfeld holte. Seit 2012, seit dem politisch fahrlässigen Auflaufen-Lassen der Minderheitsregierung von Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen und dem anschließende Scheitern bei der Neuwahl des Landtages, steht die Linke vor der Aufgabe, eine Strategie zu entwickeln, die diesen Namen verdient.

Strategien sind auf mindestens mittelfristige Zeithorizonte, mehr als eine Legislaturperiode gerichtet. Sie beinhalten - methodisch und formal - die dauerhaften programmatischen Wahlversprechen zu allgemeinen, normativen politischen Grundsätzen, sie enthalten Antworten auf Fragen, welche Rolle die Stimmenmaximierung und/oder die politische Verhandlungsmacht spielen soll, mit welchen Wahlversprechen im politischen Beziehungsfeld mit anderen (konkurrierenden) Parteien Gewinne erzielt werden sollen.

An solchen Überlegungen fehlt es in der Partei vermutlich nicht, im Gegenteil. Es fehlt aber in einem strategischen Zentrum, welches die tonangebenden Parteiaktiven hinter einer Strategie versammeln könnte, um überhaupt in die Lage zu kommen, über einen längeren Zeitraum die Wähler und Wählerinnen davon zu überzeugen, den programmatischen Signalen Glaubwürdigkeit beizumessen. Diese Aufgabe wird die Parteiführung in den kommenden zwei Jahren bewältigen müssen: die »Fehler in den letzten Jahren« erkennen und aufarbeiten und »die Partei neu entwickeln« (Susanne Hennig-Wellsow am Wahlabend).

Zu den Fehlern und Versäumnisse zählt zweifellos, dass die Partei kein strategisches Ziel und kein Selbstverständnis entwickelte, als der Wählerzustrom von der Sozialdemokratie versiegt war. Welche Gerechtigkeitsvorstellungen, welche gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen tragen den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Mit welchem demokratischen Staatsverständnis geht die Partei in den Konkurrenzkampf innerhalb des demokratischen Parteienlagers? Was sollten angesichts der sozial-ökologischen und digitalen Transformation die Grundlagen des Sozialstaates, seiner Finanzierung, einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft sein? Wie sehen demokratische Sozialistinnen die Rolle Deutschlands in der Welt? Wie kann internationale Kooperation bei den großen planetarischen Fragen möglich werden?

Wen will die Linke erreichen und vertreten: die Einkommensschwachen und Niedriglöhnerinnen, die bei der Wohlstandsverteilung zu kurz kommen - und auch, ganz im Marx’schen Sinne diejenigen, die an vorderster Front an der Weiterentwicklung der modernen Produktivkräfte, von Wissenschaft und Technologie arbeiten, um ihre Arbeit für das Wohlergehen der gesamten Menschheit nutzbar zu machen?

Die Antworten hier, die Antworten da ergeben kein schlüssiges Narrativ der Partei: Wohin sie will, was sie mit der Gesellschaft vor hat. Wenn ein solches Narrativ fehlt, bleibt eine Partei in der Durchsetzungsfalle stecken, die sich erschließt, wenn man mal kurz in den Schuhen eines 50-jährigen ehemaligen Opelarbeiters oder eine Krankenpflegerin oder … durch die politische Landschaft läuft: 2009 die Linke gewählt, 2013 die Linke gewählt, auch 2017 vielleicht noch mal - und was hat es für die Verbesserung meiner eigenen Lage, um die es der Linken ja geht, gebracht? Es gibt aus dieser Perspektive genügend andere Gründe die Linke zu verlassen als deren angeblicher Kosmopolitismus und Schwenk zum linken Lifestyle.

Horst Kahrs, Jahrgang 1956, ist Sozialwissenschaftler und arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Klassenanalyse sowie Untersuchungen zu Demokratie und Gleichheit.

Der vorliegende Text ist Teil von Kahrs Wahlnachbericht zur Bundestagswahl 2021.

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