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Kleines ABC deutscher Uneinigkeit
»Jahrbuch Deutsche Einheit 2021« - von Abwertung und Abwicklung über Identitäten bis Zonenrandgebiete
Als Beiträge zur »kritischen Historisierung des Umbruchs« seit 1989/90 verstehen sich die vom Ch.-Links-Verlag in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegebenen Jahrbücher zur Deutschen Einheit. Ein hoher Anspruch, der schwer zu realisieren ist. Zumindest solange die Akteure von damals leben, mit ihren divergierenden Erlebnissen, Erfahrungen, Enttäuschungen. Beispielsweise Abwickler und Abgewickelte. Ihnen sind zwei Beiträge im neuen Jahrbuch gewidmet.
Marie-Christin Schönstädt, Bibliotheksreferendarin in Oldenburg, untersucht die »Evaluation des ostdeutschen Wissenschaftssystems als Impuls für den Westen«. Eine euphemistisch formulierte Aufgabenstellung, die sie fairerweise mit schon seinerzeit geäußerter Kritik an dieser beginnt, darunter auf einen Artikel im »Neuen Deutschland« vom 23. Januar 1991 verweisend, mit der Schlagzeile »Über die Evaluation zum Bankrott«, der einen Kahlschlag im ostdeutschen akademischen Bereich prophezeite. Was dann ja auch eingetreten ist, nicht nur mit tragischen biografischen Brüchen, sondern letztlich auch zum qualitativen Nachteil der gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft. Dies problematisiert die Autorin indes leider nicht - aber das ist halt generell noch ein blinder Fleck in der Aufarbeitung des »Vereinigungsprozesses«.
Schönstädt zitiert erfreulicherweise auch den ostdeutschen Historiker Ulrich van der Heyden, der (allerdings nicht erst) 2020 davon sprach, dass »in keiner Etappe der deutschen Geschichte … so viel ›Humankapital‹ auf den Müll geworfen« worden sei wie nach der »Wiedervereinigung«. Maßgeblich daran beteiligt war der 1957 gegründete, in Köln ansässige Wissenschaftsrat, dem 1975 bereits die Auflösung drohte, weil der Bund ihn wegen dessen Bedeutungslosigkeit nicht mehr finanzieren wollte. Und der dann in den 80er Jahren unter dem Politikwissenschaftler Peter Graf von Kielmansegg, Spitzname »Graf Wettbewerb«, ein rigides Marktprinzip nach dem Modell der USA im bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb einführen wollte, das schließlich mit »der umfassenden Evaluationsaktivität auf dem Gebiet der ehemaligen DDR« gesamtdeutsch durchgepeitscht wurde. Die Autorin konzentriert sich auf drei Akademien in der DDR: die Akademie der Wissenschaften, die Bauakademie und die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften. Vom westdeutschen Wissenschaftsrat wurden gemäß Auftrag im »Einigungsvertrag« etwa 140 Akademieinstitute mit circa 40 000 Mitarbeitern »begutachtet«. Als zeitliche Frist war das Jahresende 1991 gesetzt.
Während der Rat selbst in seinen »Zwölf Empfehlungen« im Juli 1990 noch einen offenen Gestaltungs- und Reformanspruch erhoben und explizit verkündet habe, dass »es nicht einfach darum gehen (könne), das bundesdeutsche Wissenschaftssystem auf die DDR zu übertragen«, wurde dann doch die Chance vertan, selbstkritisch zu prüfen, inwieweit Teile des westdeutschen Bildungs- und Forschungssystems der Neuordnung bedürfen», konstatiert Schönstädt. Und bemerkt zu Recht, dass außer sieben geisteswissenschaftlich Zentren, hervorgegangen aus der «Evaluierung» von Akademiebereichen, «kaum institutionelle Neuerungen» entstanden: «Sie waren auch politisch nicht erwünscht.» (sic) Was später (zu spät!) unter anderem beklagt wurde vom renommierten westdeutschen Philosophen Jürgen Mittelstraß oder dem westdeutschen Rechtshistoriker Dieter Simon, Gründungspräsident der aus der zerschlagenen DDR-Wissenschaftsakademie hervorgegangenen Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Als Gewinner der Abwicklung der ostdeutschen Institutionen sieht Schönstädt vor allem den Wissenschaftsrat, dessen Existenzberechtigung hernach nicht mehr infrage gestellt wurde. Zu ergänzen wäre: Profitiert haben auch etliche Wissenschaftler aus der westdeutschen Provinz, die rasch die Lehrstühle der schnöde abgewickelten Kollegen in Ostdeutschland übernahmen.
Das nach wie vor unfassbare, ungeheure Geschehen reflektiert im Anschluss daran Krijn Thijs aus Amsterdam, personalisiert anhand der letzten Direktoren von vier geisteswissenschaftlichen Einrichtungen. Joachim Herrmann, der dem Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie an der DDR-Wissenschaftsakademie vorstand, wurde bitter enttäuscht, als er auf westdeutsche Kollegialität hoffte; Wolfgang J. Mommsen ließ ihn eiskalt abblitzen. Thomas Kuczynski, der 45-jährig gerade erst, 1988, das Direktorat des Instituts für Wirtschaftsgeschichte angetreten hatte, «das von vielen als heimliche Perle geschätzt wurde, kleiner und feiner als die schwerfälligen sozialistischen Forschungsfabriken», und der - so Thijs - anders als Herrmann von vielen westlichen Fachvertretern als Gesprächspartner akzeptiert worden ist, sollte ob «seiner selbstbewussten Haltung bei den Gutachtern gar nicht gut ankommen». Er wurde Ende 1991 zum Abschied gezwungen.
Fritz Klein, im Sommer 1990 aus dem Ruhestand zurückgeholt und zum Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte gewählt, habe teils radikale Veränderungen befürwortet, zugleich aber darauf beharrt, dass die DDR etwas einbringen konnte. «Die Wissenschaft der DDR ist schwer beschädigt, deformiert. Sie ist aber nicht nur das, sondern sie hat trotz aller Bevormundung und Instrumentalisierung Leistungen aufzuweisen, die sich sehen lassen können», zitiert Thijs den «vielleicht wichtigsten Vertreter der DDR-Geschichtswissenschaft», dessen Reputation als pragmatisch-marxistischer Forscher und integre Persönlichkeit weit über die DDR hinausgereicht habe. Letztlich sei aber auch er als Gesprächspartner von den westdeutschen «Evaluierern» nicht ernst genommen worden, verhallten ebenso seine Proteste gegen die «Zertrümmerung».
Der Vierte, Wolfgang Küttler, im Westen als dialogbereiter Vertreter der marxistischen Geschichtstheorie schon zu DDR-Zeiten anerkannt, war im September 1990 von den Mitarbeitern des Zentralinstituts für Geschichte, «das eigentliche Herz der ostdeutschen Nationalgeschichtsschreibung», zu ihrem Chef erkoren worden. Seine «Strategie der loyalen Kooperation», die - so der niederländische Autor - «schwierig und demütigend» war, habe zwar zu einigen hart errungenen Erfolgen, letztlich jedoch auch nur «in deprimierende Sackgassen und Warteschleifen» geführt. Zum Abschluss zitiert der Autor den Tübinger Volkskundler Konrad Köstlin, selbst Mitglied einer Gutachtergruppe. Dieser hat bereits im Januar 1991 in einem Memorandum Unbehagen hinsichtlich des gesamten Vorgehens geäußert: «Wir sollten uns davor hüten, die 24 000 Mitarbeiter der Akademie in alle Winde zu zerstreuen.» Dies könne «ein jahrzehntelanges Trauma heraufbeschwören», befürchtete er und mahnte: «Wir haben schließlich viele der nun Abzuwickelnden jahrelang als Kollegen behandelt. Das sollten wir weiter tun können.» Man tat es nicht. Spätere Selbstkritik einiger «Evaluierer» konnte von den Betroffenen dann eigentlich nur als Hohn empfunden werden.
Die weitaus größere Gruppe von Opfern der «Vereinigung», Industriearbeiter und Genossenschaftsbauern, finden im neuen Jahrbuch keine Beachtung. Weitere Themen hier sind Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur, Altstadterneuerung in Ostdeutschland, der Aufstieg der «Zivilgesellschaft» dies- und jenseits der Elbe sowie die SED-«Nachfolgepartei» PDS als Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung, über die Thorsten Holzhauser schreibt, der dazu vor zwei Jahren bereits ein Buch vorgelegt hatte.
Thomas Großbölting, Professor in Hamburg, versucht zu eruieren, was Einheitsjubel und rassistische Gewalt miteinander zu tun haben und welche Folgen nationale Identitätspolitik in der Wiedervereinigungsgesellschaft zeitigten. Seine eingangs, anlehnend an ein Wort von Althistoriker Wolfgang Schuller zum 20. Jahrestag der «Deutschen Einheit», aufgeworfene Frage, ob es sich im Herbst 1989 um eine «deutsche Revolution» gehandelt habe, verneint er. Der Autor bemerkt, dass es um mehr als die Wiederherstellung des Nationalstaates gegangen sei. In seiner Aufzählung - «Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und offene Grenzen» - fehlt indes das damals gleichwertige Ziel eines attraktiveren Sozialismus. Großbölting registriert nationale Euphorie in einer Zeit, in der «Nation» schon als überholt galt. Nationale Überhöhung habe sich vor allem bei Ostdeutschen eingenistet, deren Hoffnungen sich durch Abwertung ihrer Lebensleistungen nicht erfüllten. Der Autor kritisiert zudem die Verantwortungs- und Entscheidungsträger in der alten (und neuen) Bundesrepublik, die sich zu lange «trotzig» der Einsicht verweigert hatten, dass Deutschland längst zu einer Einwanderungsgesellschaft avanciert war.
Hope M. Harrison, Professorin an der George Washington University und Autorin des viel beachteten Standardwerkes «Ulbrichts Mauer», seziert das «geschichtspolitisch dominante Narrativ von den heroischen friedlichen Revolutionären» und die «geschichtspolitische Überhöhung des Geschehens von 1989 zu einem Lehrstück vom Sieg einer freiheitlich demokratischen Protestbewegung über eine kommunistische Diktatur». Diese Sicht würde der Komplexität und Widersprüchlichkeit des historischen Geschehens kaum gerecht. und um das hiesige kleine ABC eines (Un)Vereinigungsprozesses abzurunden, sei noch der Artikel von Astrid M. Eckert, Professorin an der Emory University in Atlanta, erwähnt. Sie befasst sich mit dem «Zonenrandgebiet», dem 40 Kilometer tiefen Streifen westlich des «Eisernen Vorhangs» von Nord nach Süd, der zu Zeiten der deutschen Teilung Bundesfördermittel (wie Westberlin) erhielt und hernach vom «Vereinigungsboom» profitierte. Insbesondere vom «aufgestauten Konsumbedarf» in den östlichen Grenzregionen sowie von den ostdeutschen Pendlern, die jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze Arbeit suchten und fanden.
Kurzum: Nach der Lektüre kann man den Herausgebern nur zustimmen, die in ihrem Editorial meinen, dass die «Spannungen zwischen rückschauender Historisierung, erinnerungskultureller Symbolisierung und gegenwartsbezogener Politisierung von Einheit, Transformation und Identität uns auch in Zukunft erhalten bleiben».
Marcus Böick/Constantin Goschler/Ralph Jessen (Hg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2021. Ch. Links, 288 S., geb., 25 €.
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