Frühere KZ-Sekretärin von Polizei gefasst

Angeklagte ergreift vor Stutthof-Verfahren die Flucht. Der Prozess könnte einer der letzten gegen Mittäter sein

  • Dieter Hanisch, Itzehoe
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich sollte Donnerstagvormittag die 96-jährige Irmgard F. als Angeklagte vor dem Landgericht Itzehoe Platz nehmen. Ihr wird vorgeworfen, als frühere Sekretärin zwischen Juni 1943 und April 1945 im Konzentrationslager Stutthof vor den Toren Danzigs Beihilfe zum Mord in mehr als 11 000 Fällen geleistet zu haben. Doch die Altenheimbewohnerin erschien nicht zur anberaumten Prozesseröffnung. Sie begab sich vielmehr auf die Flucht. Der Vorsitzende Richter Dominik Groß der 3. Großen Jugendkammer am Landgericht verkündete deswegen, dass sich der Prozessbeginn verschiebe. Landgerichtssprecherin Frederike Milhoffer ergänzte auf Nachfrage, dass Irmgard F. früh morgens, bevor sie von Beamten zum Prozess abgeholt werden sollte, den Seniorenstift in Quickborn, in dem sie wohnhaft ist, mit einem Taxi verlassen habe. Auf dem Weg in Richtung Bahnhof Norderstedt hatte sich dann zunächst ihre Spur verloren. Ein paar Stunden später wurde sie dann aber von der Polizei in Hamburg aufgegriffen.

Der Prozessauftakt wurde am frühen Nachmittag offiziell abgesagt, nachdem nur die Anwesenheit der Prozessbeteiligten festgestellt wurde. Als nächster Termin wurde vorerst der 19. Oktober anberaumt. Nach einem Medizin-Check wird nun entschieden, ob F. sich in U-Haft begeben muss. Bisher galt für den Gesundheitszustand der Angeklagten, dass dieser es ihr erlauben würde, pro Verhandlungstag maximal zwei Stunden am Prozessgeschehen teilzunehmen. Diese Momentaufnahme könnte sich aber jederzeit ändern. Inzwischen ist bekannt geworden, dass F. sich vor wenigen Tagen mit einem handschriftlich verfassten Brief an das Landgericht gewandt hatte. Darin teilte sie dem Gericht sinngemäß mit, dass sie es nicht für notwendig halte, dem Prozess beizuwohnen.
Bei dem Strafprozess wird nach Jugendrecht angeklagt, weil F. zum Tatzeitpunkt erst 18 und 19 Jahre alt war und damit in der juristischen Bewertung als Heranwachsende gilt. Der Fall vor dem Landgericht Itzehoe könnte einer der letzten Prozesse gegen Naziverbrechen vor einem deutschen Gericht sein. Am ersten Verhandlungstag sollte am Donnerstag von der Staatsanwaltschaft nur die Anklage verlesen werden. Weitere Prozesstermine sind vorbereitend zunächst bis in den Juni nächsten Jahres festgelegt. Vorausgegangen waren der Anklage mehr als vierjährige Ermittlungen. Dafür wurden Zeugen nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und Israel befragt.

Die Angeklagte wollte sich zunächst von einem Familienmitglied verteidigen lassen. Auf Anraten des Gerichts nahm sie von dem Wunsch Abstand. Nun begleitet Wolf Molkentin sie als Pflichtverteidiger. Er betonte gegenüber dem »Spiegel« bereits, dass die zentrale Frage des Prozesses sei, inwieweit F. als Bürokraft in der Lagerkommandantur von Stutthof Kenntnis von der Mordmaschinerie und von den Merkmalen der Grausamkeit und Heimtücke der Tötungen hatte. Ansonsten könne sie maximal zur Beihilfe zum Totschlag belangt werden. Das wäre ein verjährter Tatbestand.

Angeblich nichts vom Massenmord mitbekommen

Bereits mehrfach wurde F. als Zeugin zu den damaligen Vorgängen befragt. Insbesondere sollte sie sich zu ihrer Tätigkeit als Schreibkraft und Stenotypistin von Lagerkommandant Paul-Werner Hoppe äußern. Dabei bekräftigte sie jeweils, dass sie angeblich von den systematischen Tötungen nichts mitbekommen habe. In dem Konzentrationslager Stutthof und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen am Kriegsende fanden nach Auskunft der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg ungefähr 65 000 Menschen den Tod. In dem Lager gab es sowohl eine Gaskammer als auch eine Genickschussanlage.

Rajmund Niwinski vertritt sieben Mandanten als Nebenklage-Anwalt bei dem Prozess. Er zeigte sich nicht unbedingt überrascht von der Flucht der Angeklagten. Der Mord-Vorwurf sei zweifellos eine schwerwiegende Vorhaltung. Für den Düsseldorfer ist der Itzehoer Fall kein Neuland. Er war Nebenklagevertreter im Stutthof-Prozess gegen den früheren SS-Wachmann Bruno D., der im vergangenen Jahr zu einer zweijährigen Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. »Das Hamburger Verfahren ist eine Blaupause für den nun hier in Itzehoe zu verhandelnden Fall«, sagt Niwinski.

Aufgrund des großen öffentlichen Interesses, darunter mehr als 130 Medienanfragen aus dem In- und Ausland, sah das Itzehoer Gericht sich gezwungen, die Verhandlungen wegen des benötigten Platzbedarfs und den erforderlichen Corona-Hygienebestimmungen auszulagern. Dafür wurden extra Räumlichkeiten auf dem Gelände eines Logistikunternehmens im Gewerbegebiet angemietet. Wie viel Kosten dafür veranschlagt wurden, will das Gericht nicht mitteilen.

Der Grund, warum so viele Jahre nach dem Kriegsende noch Prozesse gegen Mittäter und Helfer in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis geführt werden, ist das Urteil gegen John Demjanjuk von 2011. Er war Wachmann im Vernichtungslager Sobibor. Vor dem Urteil gegen ihn vertraten Juristen den Standpunkt, dass man den Tätern eine unmittelbare Tötungshandlung oder die Beihilfe dazu nachweisen musste, um sie belangen zu können. Inzwischen gilt das Mitwirken am Tatort als ausreichend.

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