- Kommentare
- Debatte in der Linkspartei
Die Linke braucht eine Erneuerung statt spalterischer Milieudebatten!
Dokumentiert: Migrantische Politiker fordern Auseinandersetzung mit den Positionen von Sahra Wagenknecht
Wir melden uns zu Wort als Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung, als Menschen, die in Bewegungen und Zivilgesellschaft verankert sind und als Genoss:innen, die sich für eine Erneuerung der LINKEN stark machen. Wir streiten für eine LINKE, die nah an den Menschen, vor Ort verankert und bewegungsorientiert ist und die sich für eine verbindende Klassenpolitik einsetzt. Eine LINKE, die Klimaschutz, eine offene Migrationspolitik und queere Themen mit der sozialen Frage zusammen denkt und dies auch in den Kämpfen vor Ort konkret praktiziert.
Die LINKE hat ein desaströses Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren. Nach dieser Niederlage geht es für die Partei um alles. Ein »Weiter so« ist brandgefährlich und gefährdet ihre Existenz. Jetzt muss endlich offen und schonungslos über die Ursachen der Niederlage, den Zustand der Partei, der Bundestagsfraktion und über mögliche Lösungswege geredet werden. Wer jetzt schweigt, hilft der Partei nicht. Denn wir stehen vor einem Scheidepunkt. Die Partei muss sich jetzt entscheiden, welchen Weg sie gehen will: Weiter mit der innerparteilichen Blockade, die auch auf der mangelnden Bereitschaft beruht, Konflikte abschließend auszutragen, mit widersprüchlichen Positionen in zentralen gesellschaftlichen Fragen von Klimaschutz, Migration und Rassismus und auch der Frage nach Gender. Vielen Menschen in diesem Land ist nicht klar, wofür DIE LINKE eigentlich steht, welches gesellschaftliche Projekt sie anstrebt und wieso man sie wählen sollte. Dies beruht auch darauf, dass trotz einhellig beschlossener Programmatik auf den Parteitagen der letzten Jahre, von einigen nahezu täglich etwas anderes über die Medien kolportiert wird. Wollen wir weiter öffentlich widersprüchliche Botschaften aussenden, ein Schritt vor und zwei zurückgehen? Weiter Personal in wichtigen Ämtern und Mandaten haben, das hundert Mal beschlossene Positionen nicht bereit ist zu vertreten? Oder wollen wir endlich gemeinsam für unsere Inhalte auf der Straße, in unseren Kiezen, Kommunen und in den Parlamenten kämpfen und auch die junge politisierte Generation für unsere Partei aktivieren und gewinnen?
Wir sind davon überzeugt, dass, wenn wir letzteres nicht tun, die Partei bald Geschichte ist. Das darf nicht passieren! Denn es braucht eine konsequente soziale Stimme, eine Stimme, die die hiesigen und weltweiten Verheerungen des Kapitalismus aufzeigt und Alternativen entwickelt. Eine Stimme, die Fortschritte und Reformen heute erkämpft und gemeinsam mit den progressiven Bewegungen der letzten Jahre agiert. Fridays for Future, Initiativen wie Deutsche Wohnen & Co enteignen und die vielen Mieter:innen-Initiativen, Unteilbar und die Seebrücke, Black Lives Matter, die Berliner Krankenhausbewegung, Sozialverbände und die Gewerkschaften sind unsere Partner:innen im Kampf für eine gerechtere, ökologischere und diskriminierungsfreie Welt. Diesen Weg müssen wir weitergehen, wir müssen neue aktive Mitglieder gewinnen, die Partei aufbauen und in den Kiezen und Kommunen verankern. Diese Verankerung vor Ort ist nur möglich, wenn den Menschen klar ist, wofür wir stehen.
Wir betrachten mit großer Sorge die Forderung von einigen Mandatsträger:innen, Sahra Wagenknecht wieder zurück in wichtige Ämter zu heben. Ihr inhaltliches Projekt und das ihrer Anhänger:innen ist rückschrittlich und zum Scheitern verurteilt. Die ermüdenden Kämpfe, die Zerrissenheit, die widersprüchlichen Botschaften, der Verlust an Glaubwürdigkeit, haben zu einem ganz großen Teil dazu geführt, dass wir auf Bundesebene bei unter fünf Prozent gelandet sind. Wagenknecht, ihre Positionen und ihre Politikvorstellung sind verantwortlich für die massive Zerrissenheit in vielen Landesverbänden, für Parteiaustritte und der Grund, warum viele engagierte junge Menschen, die wir so dringend brauchen, nicht zu uns kommen. Das Projekt »Aufstehen« hat DIE LINKE über zwei Jahre beschäftigt und zur Spaltung und Lähmung der Partei beigetragen, zur Demobilisierung an der Basis und den dringend nötigen Parteiaufbau in Ost und West verhindert. Dahinter steht auch ein Politikverständnis, das an den Parteigremien vorbei über Medien versucht Fakten zu schaffen. Mit diesem undemokratischen und unsolidarischen Verhalten muss endlich Schluss sein! Inhaltlich spalten die Thesen Wagenknechts unsere Wähler:innen in »Lifestyle-Linke« und »hart arbeitende normale Menschen«. Diese Schablonen sind nicht nur inhaltlich falsch, sie führen auch dazu, dass Teile unserer Anhänger:innenschaft beleidigt werden. Statt verschiedene Milieus, die uns wählen oder wählen könnten, die mit uns für eine bessere Gesellschaft streiten oder streiten könnten, zusammen zu bringen, werden sie gegeneinander ausgespielt. Dies ist keine kluge Strategie, sondern schwächt die Partei, wie das Wahlergebnis zeigt.
Berlin beispielsweise hat trotz negativem Bundestrend das Ergebnis in absoluten Stimmen bei der Abgeordnetenhauswahl gehalten – durch einen engagierten Wahlkampf, der all die wichtigen Themen und Anliegen der Menschen verbunden hat, statt sie gegeneinander auszuspielen. Es gab zwar auch Verluste, aber in den Bezirken, wo Kandidat:innen und Genoss:innen verbindende Klassenpolitik vor und während des Wahlkampfes gelebt haben, Themen wie Antirassismus und die soziale Frage miteinander verbunden haben und nah an den Menschen vor Ort waren, konnte bis zu zehn Prozent an Stimmen zugelegt werden. Haustürgespräche, vor allem in Vierteln, die von Prekarisierung und Armut betroffen sind, sowie die Unterstützung von Bürger:innen-Initiativen, waren ein wichtiger Schlüssel zu diesem Erfolg. Gewonnen wurden die Menschen nicht, weil wir ihnen in allen Politikfeldern nach dem Mund geredet haben, sondern, weil die Kandidat:innen und Teams sie aufgesucht und ihnen zugehört haben. Und weil sie sich für ihre Belange vor Ort einsetzen, sei es bei der Frage von bezahlbarem Wohnraum oder auch Rassismus, den viele prekarisierte Migrant:innen als zusätzliche Bedrohung erleben.
Als LINKE schaffen wir es oft nicht ausreichend, über Massenmedien wahrnehmbar zu sein und wenn, nicht selten in Verbindung mit Negativ-Erzählungen wie der jüngsten »Rote-Socken«-Kampagne oder innerparteilichem Streit. Das Wichtigste ist auch daher der direkte Kontakt vor Ort, das persönliche Gespräch, dass uns die Menschen kennen und sehen, dass wir versuchen ihren zum Teil harten Alltag zu verbessern, indem wir uns in die Konflikte vor Ort begeben und sie mitgestalten wie bei der Berliner Krankenhausbewegung, aber auch Deutsche Wohnen & Co enteignen oder verschiedenen antirassistischen Initiativen. Wichtig ist auch, dass die Partei- und Mandatsträger:innen-Büros Orte der Begegnung sind und beispielsweise Sozial-, Mietrechts- und Aufenthaltsrechtsberatung anbieten. Wichtig wird auch sein, dass wir außerhalb des Wahlkampfes weiter an den Haustüren klingeln und Fragen, wo der Schuh drückt. Das ist der Weg oder zumindest ein Teil des Weges und nicht der von manchen medial propagierte »Linksnationalismus«. Die Menschen, die vermeintlich damit erreicht werden können, wählen schon rechts und sind für ein gesellschaftlich linkes progressives Projekt nicht zu gewinnen.
Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger:innenschaft versucht nach der Wahl eine andere Erklärung in den Medien zu verbreiten: Das Scheitern liege an der mangelnden Bereitschaft der Partei, auf sie und ihre Thesen zu hören. Unsere beschlossene liberale Migrationspolitik, unsere Klimaschutzpolitik oder Genderfragen seien schuld. Wir hätten uns zu wenig um das Thema soziale Gerechtigkeit gekümmert. Diese Ursachendarstellung ist schlicht absurd. Es muss Schluss damit sein, dass durch permanente Querschüsse in den Medien unsere Arbeit in stadtpolitischen Bündnissen und in sozialen Bewegungen zunichte gemacht wird. Wir haben es satt, dass Sahra Wagenknecht die Berechtigung unserer Kämpfe als Genoss:innen mit Migrationsgeschichte, als Geflüchtete, als Migrant:innen, als Menschen mit Rassismuserfahrung permanent in Frage stellt und im Ergebnis rassistische Erzählungen stärkt. Es reicht!
Es darf nicht bleiben, wie es ist und wie es war. Die Partei und vor allem die Fraktion waren in den letzten Jahren kaum handlungsfähig. Ein Bündnis aus Wagenknecht-Anhänger:innen und Reformer:innen hat die Fraktion geführt und einen relevanten Teil der Partei ausgeschlossen. Wir hören, dass dies weitergehen soll und halten es für einen fatalen Fehler. Nicht nur die Partei, auch die Fraktion trägt eine gehörige Mitverantwortung für den Fortbestand der Partei. Wir erwarten, dass die Fraktion jetzt einen Fraktionsvorstand wählt, der inklusiv ist und die Beschlüsse der Partei respektiert und umsetzt. Wir bestehen auf das Primat der Partei, die über 60.000 Mitglieder basisdemokratisch organisiert. Dazu gehört auch eine Absage an eine Spaltung unserer Anhänger:innenschaft. Themen gehören nicht gegeneinander ausgespielt. Auch deshalb erwarten wir, dass die Positionen von Sahra Wagenknecht isoliert werden und nicht mehr diejenigen prominent für Partei und Fraktion sprechen, die nicht bereit sind, sich in so zentralen Fragen an demokratisch gefällte Parteibeschlüsse zu halten.
Es ist Zeit für eine Erneuerung der Partei, die ihre Zukunftsfähigkeit absichert und die vor allem eins ist: eine solidarische LINKE.
Gökay Akbulut (BaWü), Aie Al Khaiat-Gornig (NRW), Belma Bekos (Berlin), Nadja Charaby (Berlin), Melrose Caramba-Coker (Berlin), Elif Eralp (Berlin), Liên Grützmacher (Berlin), Lena Saniye Güngör (Thüringen), Pazhare Heidare (Berlin), Daniel Kerekeš (NRW), Efsun Kızılay (NRW), Ferat Kocak (Berlin), Johannes Jonic (Bayern), Niema Movassat (NRW), Luigi Pantisano (BaWü), Nam Duy Nguyen (Sachsen), Kerem Schamberger (Bayern), Tarek Shukrallah (Berlin), Birgül Tut (Bremen)
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.