- Politik
- Protest in Brasilien
Auf der Suche nach einer breiten Front
Ein Bündnis aus linken Parteien und Gewerkschaften mobilisiert in Brasilien erneut gegen Präsident Bolsonaro
Am 10. Februar brach für Silvina Macedo die Welt zusammen, denn an diesem Tag starb ihr Mann an Corona. »Hätte die Bolsonaro-Regierung auf Experten gehört und nicht den Kauf von Impfstoffen behindert, würde Gerson Domont vielleicht noch leben«, sagt die kleingewachsene Frau, während sie an der Spitze einer Demonstration in der Amazonasmetropole Belém marschiert. In der Hand hält sie ein Schild, auf dem ein Foto ihres verstorbenen Mannes zu sehen ist. Macedo war eine von Zehntausenden Demonstrant*innen, die am Samstag bei landesweiten Protesten in ganz Brasilien gegen die rechtsradikale Regierung auf die Straße gingen.
In Belém, einer Millionenstadt im Mündungsgebiet des Amazonas, kommen die Menschen wegen der Hitze schon früh am Morgen zusammen. Der Marktplatz São Brás verwandelt sich in ein buntes Wirrwarr. Fahnen, Transparente, gereckte Fäuste. Trommelklänge hallen durch die Straßen. Ein junger Mann mit Maske, blauem T-Shirt und Federschmuck auf dem Kopf wuselt durch die Menge, telefoniert, gibt Anweisungen. Der 21-jährige indigene Jurastudent Telmiston Guarajara ist einer der Organisator*innen, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. »Wir dürfen nicht bis zur Wahl 2022 warten«, meint er. »Wir müssen Bolsonaro jetzt stürzen.«
Viele machen den ultrarechten Präsidenten für das Chaos im Land verantwortlich. Zwar hat sich die Corona-Lage in den letzten Wochen entspannt. Doch die Pandemie hat das Land schwer gebeutelt, fast 600.000 Menschen starben. Wie kaum ein anderer Staatschef leugnete Bolsonaro die Gefahren der Pandemie, ignorierte den Rat von Wissenschaftler*innen und machte Stimmung gegen Impfungen. Zudem soll der selbsterklärte Saubermann von Korruptionsversuchen bei der Beschaffung des indischen Covaxin-Impfstoffes gewusst haben.
In einem von extremer sozialer Ungleichheit geprägten Land wie Brasilien sind die Auswirkungen der Pandemie brutal: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordwerte geklettert, Zehntausende Obdachlose bevölkern die Straßen der großen Städte, 19 Millionen Brasilianer*innen hungern. Am Mittwoch machte eine Reportage in der Tageszeitung »Extra« die Runde: Sie handelt von Menschen in Rio de Janeiro, die sich von Fleischabfällen ernähren müssen.
»Bolsonaro interessiert sich nicht für das Leid der Bevölkerung«, meint Telmiston Guarajara. Geht es nach dem Aktivisten, müsse es deshalb nun »eine möglichst breite Front« gegen die Regierung gebildet werden – auch zusammen mit Konservativen und Rechten. Viele hoffen auf eine neue »diretas já«-Kampagne. Im Jahr 1984 gingen Millionen Menschen, getragen von einer Allianz verschiedener politischer Spektren, gemeinsam für direkte Wahlen auf die Straße. Doch dass es zu einer Neuauflage kommt, ist unwahrscheinlich. Nach turbulenten Jahren sind die Gräben tief, die Gesellschaft ist extrem polarisiert. Auf den Protesten am Samstag waren fast nur Linke sichtbar, so auch in Belém, insgesamt blieben die Teilnehmerzahlen hinter den Erwartungen zurück.
Auf vielen Schilder war die Forderung zu lesen: »Impeachment jetzt!«. Die schweren Vergehen, die Präsident Bolsonaro im Umgang mit der Pandemie vorgeworfen werden, könnten eine Amtsenthebung rechtfertige. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Über die Aufnahme des Verfahrens entscheidet allein der Präsident des Abgeordnetenhauses, ein Verbündeter Bolsonaros. Und im Parlament genießt der Rechtsradikale bisher noch die Unterstützung des »centrão«, des einflussreichen Mitte-Rechts-Blocks. Außerdem kann sich Bolsonaro auf rund 25 Prozent der Bevölkerung verlassen. Seine teils fanatische Anhängerschaft steht treu hinter ihm und mobilisiert ebenfalls regelmäßig zu Protesten.
Bis zur Wahl im kommenden Jahr wird noch viel passieren. Das Wahlverhalten in Brasilien ist oft unberechenbar und hat viel mit aktuellen Entwicklungen zu tun. Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie bei vielen bis dahin nicht mehr im Fokus steht. »Im kommenden Jahr wird außerdem die Wirtschaft wieder wachsen und es wird ein neues Sozialprogramm geben, durch das arme Menschen ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben werden«, sagte der politische Analyst und ehemalige Kommunikationsminister Thomas Traumann dem »nd«. »Bolsonaro wird sich erholen können. Deshalb muss bei der nächsten Wahl mit ihm auf jeden Fall gerechnet werden.«
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