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Der Schutzmann als Killer
Mord an Sarah Everard rückt Sexismus und Korpsgeist bei britischer Polizei in den Fokus der Öffentlichkeit
Vor einem halben Jahr, als Sarah Everard in London vergewaltigt und ermordet wurde, waren die Trauer und die Betroffenheit im ganzen Land riesig - der Tatverdächtige Wayne Couzens war ein Mitglied der Polizei. In den letzten Tagen ist noch ein Schock hinzugekommen: Während der Gerichtsverhandlung gegen den 48-jährigen Couzens stellte sich heraus, dass dieser sich gegenüber dem Opfer als Polizist im Dienst ausgegeben und Everard wegen angeblicher Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen »verhaftet« hatte. War das Vertrauen in die Londoner Polizeibehörde Metropolitan Police bereits vorher schwer beschädigt, hat sich die Affäre nunmehr zu einer schweren Krise für die britischen Sicherheitsbehörden ausgeweitet.
Couzens entführte die 33-jährige Sarah Everard am 3. März im Londoner Stadtteil Clapham, als sie auf dem Weg nach Hause war. Er vergewaltigte Everard und erdrosselte sie mit seinem Polizeigurt; der Richter sprach von den »erschütternden, tragischen und brutalen Umständen ihres Todes«. Couzens wurde am Donnerstag zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt, der Mörder wird im Gefängnis sterben. Aber der Fall ist damit nicht vorbei. Er hat Fragen zu internen Vorgängen bei der Polizei aufgeworfen: Hatte die genau überprüft, wer Couzens war? Und: Wie können sich Frauen in der Öffentlichkeit sicher fühlen, wenn ihnen ein Polizist begegnet?
Bereits Jahre vor seinem Wechsel zur Metropolitan Police war Couzens vorgeworfen worden, sich unsittlich entblößt zu haben. Laut Medienberichten war er unter manchen Kollegen als »der Vergewaltiger« bekannt, weil er eine Vorliebe für gewalttätige Pornografie hatte. Hätte die Polizei nicht früher handeln und ihn aus der Einheit werfen müssen? Ein leitender Polizist berichtete während der Gerichtsverhandlung von einer »Kultur, in der Kollegen beschützt werden«. Er selbst habe davor gewarnt, dass die »Anti-Korruptions-Einheiten zu wenig Kapazität und zu wenig Neugier haben, wenn es um das Verhalten und die Haltungen von Polizisten geht«.
Die Chefin der Londoner Polizei, Cressida Dick, entschuldigte sich bei der Öffentlichkeit für Couzens Verbrechen - er habe »Schande« über die Polizei gebracht und »das Vertrauen in die Polizei ausgehöhlt, auf das die Öffentlichkeit ein Anrecht hat«. Die Polizeichefin ist offensichtlich bemüht, den Mord als einen Einzelfall darzustellen - ihren Rücktritt zu erklären, was von vielen Politikern gefordert wird, hat sie bislang abgelehnt.
Viele Aktivisten und Experten, die einen kritischen Blick auf die Polizei werfen, verweisen darauf, dass es sich um ein systemisches Problem handelt. Laura Bates, die Gründerin der Kampagne Everyday Sexism Project, sagte: »Es ist unglaublich frustrierend, dass wir uns einem institutionellen Problem gegenübersehen, aber wir tun so, als seien es ein paar schwarze Schafe.«
Sie verwies darauf, dass derzeit eine interne Untersuchung gegen mehrere Mitglieder der Metropolitan Police läuft, die in einer Chatgruppe frauenfeindliche, rassistische und homophobe Nachrichten ausgetauscht hatten; auch Couzens war Teil dieser Gruppe. Zudem sind zwei Polizisten suspendiert worden, nachdem sie im vergangenen Sommer am Tatort eines Doppelmords an zwei Frauen Fotos gemacht und an Bekannte geschickt hatten. Und nur wenige Tage nach dem Urteil gegen Couzens wurde ein weiterer Beamter wegen Vergewaltigung angeklagt. Er arbeitete zuletzt in derselben Abteilung wie der Mörder von Everard. Beide waren für den Schutz des Parlaments und diplomatischer Gebäude in London zuständig.
Viele Britinnen stellen sich angesichts solcher Vorfälle die Frage, wie sie sich überhaupt sicher fühlen können, wenn sie von einem Polizisten angehalten werden. Die Metropolitan Police selbst hat Ratschläge ausgegeben - die jedoch an der Sache vorbeigehen und für viel Frustration und Empörung gesorgt haben. Wer von einem angeblichen Polizisten konfrontiert werde und sich nicht sicher sei, ob es tatsächlich ein Polizist sei, solle »einem Passanten zurufen, in ein Haus rennen, an eine Tür klopfen, die Notfallzentrale anrufen oder einen Bus anhalten«.
Demnach wäre es also die Aufgabe der Allgemeinheit, zu überprüfen, ob man den Leuten, die eigentlich für die öffentliche Sicherheit zuständig sind, auch über den Weg trauen kann. Andy Burnham, der Bürgermeister von Manchester, sagte: »Jede Antwort auf dieses Problem, die mit den Worten ›Frauen sollten …‹ beginnt, ist die falsche Antwort. Dieses Problem beginnt bei Männern.«
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