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Der Witz als Form des Überlebens
Differenziert, aber auch gnadenlos: Viktor Jerofejews »Enzyklopädie der russischen Seele« neu aufgelegt
Fast wäre Viktor Jerofejew wegen seines Romans »Enzyklopädie der russischen Seele«, der erstmals Ende der 90er Jahre erschien, im Gefängnis gelandet. Zweimal stand er deshalb vor Gericht, und die Professoren der Staatlichen Universität Moskau forderten in einem Offenen Brief, das Buch ihres ehemaligen Studenten zu verbieten. Nationalisten beschimpften den Autor als Russlandhasser.
Doch Jerofejew versichert im Vorwort der deutschen Neuausgabe: »Sie werden nichts Russophobisches in diesem Roman finden. Da gibt es Verzweiflung des Helden über die Schwächen unserer russischen Mentalität, darüber, dass unser Volk mit Demokratie nichts anzufangen weiß. Aber ich meine, der ganze Roman ist durchdrungen von Liebe zu meinem Land.«
Viktor Jerofejew setzt sich in seinen Werken seit Jahrzehnten differenziert, aber gnadenlos mit den Widersprüchen und Abgründen der russischen Gesellschaft auseinander. Seine Laufbahn als Schriftsteller begann er in den siebziger Jahren. Er gehörte zu den Herausgebern des kritischen Literaturalmanachs »Metropol«, was ihm den Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband einbrachte. Heute ist er als scharfer Kritiker der Regierung Putin und der von ihr forcierten Ablehnung der sogenannten westlichen Werte wie Multikulturalismus, Liberalismus und Toleranz bekannt. Doch anders als viele seiner kritischen Schriftstellerkolleg*innen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben, lebt Viktor Jerofejew bis heute in Moskau.
Als seine »Enzyklopädie der russischen Seele« Ende der 1990er Jahre erschien, hieß der Präsident der russischen Föderation noch Boris Jelzin. Dennoch mutet vieles von dem, was Jerofejew darin beschreibt, sehr aktuell an. Die Entwicklung, die das Land in den zwanzig Jahren unter Wladimir Putin nahm, kann man hier in seinen Anfängen und Kontinuitäten beobachten. Jetzt ist der Roman in der Übersetzung von Beate Rausch endlich auf Deutsch erschienen.
Um einen klassischen Roman handelt es sich dabei allerdings nicht, sondern um ein Sammelsurium kleiner Geschichten, Kommentare und Aphorismen. Jeder Abschnitt ist einem Überbegriff zugeordnet – wie es sich für eine Enzyklopädie gehört. Neben allgemeinen Begriffen wie »Arbeit«, »Liebe« oder »Moral« findet sich eine wilde Mischung aus Alltäglichem, Philosophischem und Groteskem. Von »Datscha«, »Unterhosen« und »Mama« bis zum »Niedergang Russlands« und »Piroggen mit Menschenfleisch« ist alles dabei.
Manche der Einträge sind kleine philosophische Essays, andere sind bloß alberne Blödeleien. Warum für Jerofejew gerade Letzteres die passende Form ist, sich seinem Gegenstand, der russischen Kultur und Gesellschaft, anzunähern, erläutert er im Abschnitt »Der Witz«: »Der Witz ist die einzige Form der russischen Selbsterkenntnis. Eine Form der Therapie. Mehr noch, eine Form des Überlebens. Andererseits eine Form der Verzweiflung.«
Oft reichen Jerofejew wenige Worte, um sehr viel auf den Punkt zu bringen. Große gesellschaftliche Konflikte gibt er komprimiert in Form kurzer satirischer Dialoge wieder. Und unter dem Begriff »Gericht« steht nur ein einziger Satz: »Das russische Gericht ist schrecklicher als das Jüngste Gericht.« Ausführlicher und differenzierter wird es zum Beispiel in der kleinen Anleitung »Wie man aus dem Volk austritt«.
Mit vielen Verweisen auf die klassische Literatur beschreibt Jerofejew verschiedene Arten, sich von dem ideologischen Konstrukt des Volkes zu distanzieren und transportiert dabei eine klar antinationalistische Haltung. All die beschriebenen kulturellen und politischen Phänomene – von den Eigenheiten der russischen Gastfreundschaft bis zur Kontinuität des Totalitarismus – bilden zusammen ein ganzes Panorama, mit dem sich Jerofejew dem großen rätselhaften Begriff im Zentrum annähert: Russland.
Dass es bei der Annäherung bleiben muss, hat auch der Erzähler der »Enzyklopädie« eingesehen: »Ich hielt an einem traditionellen Irrtum fest: Ich glaubte, Russland sei beschreibbar.« Schließlich wusste schon im 19. Jahrhundert der Dichter Fjodor Tjuttschew, dass man Russland mit dem Verstand nicht begreifen könne.
Lose zusammengehalten werden die einzelnen Abschnitte der »Enzyklopädie« von den Erlebnissen eines Ich-Erzählers, der sich immer mal wieder zu Wort meldet. Er hat es mit US-amerikanischen Spionen, der »Verlobten mit den großen Zähnen« und mit der rätselhaften und mächtigen Figur des »Grauen« zu tun. Dieser Graue stellt eine große Gefahr für Russland dar und verkörpert gleichzeitig sehr viel von dem, was Jerofejew in seinem Roman an der russischen Realität kritisiert. Die Mischung aus scharfen Pointen einerseits und Unklarheit andererseits lässt sowohl Raum für klare Kritik als auch für Ambivalenz, was eine große Stärke des Buches ist.
Eine durchgehende Geschichte oder gar einen Spannungsbogen darf man hier nicht erwarten. Teilweise hat man bei der Lektüre auch den Eindruck, dass man das so ähnlich schon an anderer Stelle im Buch gelesen hat. Doch wenn man die »Enzyklopädie« nicht nach den Maßstäben der Unterhaltung beurteilt, sondern als ein Dokument literarischer Opposition betrachtet, ist die große Bedeutung des Buches offensichtlich.
Jerofejew weiß, wovon er schreibt, und seine auf den ersten Blick manchmal platt erscheinenden Kalauer lassen einen auf spielerische Art Russland besser verstehen. Für diejenigen Leser*innen, die mit der Geschichte und Kultur Russlands weniger vertraut sind, dürfte allerdings vieles unverständlich bleiben. Angesichts der vielen Anspielungen auf die Literatur und auf reale Personen und Ereignisse wäre ein Glossar hilfreich gewesen. Aber vielleicht hätte das auch nicht so richtig gepasst zu einer »Enzyklopädie«, die sich ja nicht auf abschließende Erklärungen festlegen will.
Denn eine abschließende Erklärung würde keinen Raum mehr lassen für Veränderung. Denn bei Jerofejew schwingt immer der Wunsch nach einem anderen Russland mit. Wer ihm vorwirft, Russland zu hassen, weil er den Nationalismus, das Totalitäre und Rückwärtsgewandte des russischen Staates kritisiert, der glaubt, dass es diese Dinge sind, die Russland ausmachen. Daran glaubt Jerofejew nicht. »Mein Russland – das ist das Russland, das selbst in der schwersten Stunde fähig ist, von sich zu erzählen, von seinem Verfall, seinem Niedergang und seinen teils unerfüllbaren Träumen, von seiner Wiedergeburt«, schreibt er im Vorwort zur »Enzyklopädie«. Jerofejew selbst gehört zu den großen russischen Autoren, denen dies gelingt.
Er hat keine Angst vor den Abgründen, er lotet sie aus, ohne Rücksicht auf Verluste. Damit gehört er zu den Autor*innen, die es schaffen, mit einem Roman voller Witz und Widerspruch die politische und gesellschaftliche Realität greifbarer zu machen als alle Statistiken und Analysen zusammen. Mehr kann man von politischer Literatur nicht erwarten.
Viktor Jerofejew: Enzyklopädie der russischen Seele. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Matthes & Seitz, 420 S., geb., 25 €.
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