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Woran Rot-Grün-Rot gescheitert ist
Das Wahldebakel der Linken ist auch Ergebnis der Fragmentierung des Parteiensystems
»Sonstige bei 9 Prozent: Wenn es so kommt verhindern, linke Spaß-Partei-Wähler*innen im September R2G«, habe ich Mitte August auf Twitter geschrieben – anlässlich einer Umfrage, die ersteres zeigte. Der Tweet ging viral, weil in den Kommentaren ein Proteststurm losbrach. Doch angesichts des Wahlergebnisses ist klar: Nicht nur nach rechts, entweder zur SPD oder gar zur AfD, abwandernde Arbeiter, die Sahra Wagenknecht halten oder zurückholen will, sind ein Problem für die Linkspartei. Auch ein kleines, politisch hoch engagiertes linkslibertäres Milieu hat nicht nur die Linkspartei an den Rand der parlamentarischen Existenz gebracht, sondern eine Mehrheit für Rot-Grün-Rot verhindert und sich so aktiv an der parlamentarischen Marginalisierung der gesellschaftlichen Linken im breitesten Sinne beteiligt.
Auch wenn es im Sondierungsjournalismus und in der Jamaika- und Ampelberichterstattung sowie in der Debatte um das schwache Abschneiden der Linkspartei untergeht: Das progressive Lager in Deutschland bei der Bundestagswahl kräftig dazugewonnen. 2017 kam es noch auf 38,7 Prozent, jetzt auf 45,4 Prozent, gewann 74 Parlamentsmandate dazu. Fünf Sitze fehlen für ein rot-grün-rotes Bündnis auf Bundesebene, das Olaf Scholz anders als frühere SPD-Kanzlerkandidaten selbst unter Druck einer Rote-Socken-Kampagne im Wahlkampf nicht ausgeschlossen hat. Es war diesmal also nicht die SPD, die Rot-Grün-Rot verhindert hat.
Die Zahl der Wähler*innen für sonstige Parteien ist gegenüber 2017 von 5,0 Prozent auf 8,6 Prozentpunkte gewachsen, als Teil des Trends zur Fragmentierung des Parteiensystems in Deutschland. Etwas weniger als die Hälfte der »Sonstige«-Wähler*innen stimmte für im weiteren Sinne progressive Kleinstparteien. Das hat klare politische Konsequenzen, verhindert eine parlamentarische Mehrheit für eine Mitte-links-Koalition in Deutschland.
Bei 46 Millionen Wählern und 735 Sitzen im Bundestag entspricht ein Mandat durchschnittlich 63 000 Stimmen. Auf die Wähler*innen der sonstigen Parteien entfielen 8,6 Prozentpunkte. Rot-Rot-Grün hätte heute sieben Mandate mehr, wenn nur die 461 000 Wähler*innen von Die Partei für die Linkspartei oder für die Grünen gestimmt hätten. Besonders stark gewann 2021 die Tierschutzpartei dazu.
Tom Wohlfarth hat darauf verwiesen, dass die Linkspartei, gemessen an ihrer Größe, mehr Stimmen an nicht im Bundestag vertretene Parteien verloren hat als jede andere Partei. SPD und Grüne verloren zwar relativ gesehen fast genau so viele Wähler*innen an Sonstige, haben aber fünf beziehungsweise drei Mal so viele Wähler*innen. Laut Wählerwanderungsdaten von Infratest dimap gingen der Linkpartei 330 000 Menschen in Richtung »Sonstige« von der Fahne – wenn sie der Partei treu geblieben wären, hätte es mit fünf weiteren Mandaten knapp gereicht, um Rot-Grün-Rot und damit eine praktische Umsetzungsperspektive für im weitesten Sinne fortschrittliche Politik im Zuge einer Mitte-links-Koalition im Bund zu ermöglichen.
Unter meinem Tweet im August argumentierten viele augenscheinlich linkslibertär denkende Sonstige-Wähler*innen offenbar empört, linke Parteien hätten keinen Anspruch auf Stimmen, müssten zuerst einmal überzeugen, man wolle nicht mehr das »kleinere Übel« wählen, sie erklärten die Fünf-Prozent-Hürde zum Problem und die Linke mit Hinweis auf Sahra Wagenknecht für unwählbar. All das sind wichtige und legitime Kritiken, sie ändern aber nichts an der kalten realpolitischen Realität unseres Wahlsystems: Die Fünf-Prozent-Hürde existiert nun mal, egal wie wünschenswert es wäre, sie abzuschaffen. Linke Kleinstpartei-Wählerinnen müssen sich entscheiden, was ihnen wichtiger ist: Prinzipienreiterei und Idealismus fast ohne praktische Wirkung oder möglichst wirkungsvolle Stimmabgabe, die eine progressive Kompromisskoalition parlamentarisch zumindest möglich macht. Rot-Grün-Rot zu verhindern und den Anspruch zu haben dafür nicht kritisiert werden zu dürfen, wie es manche »Sonstige«-Wähler*innen empört unter meinem Tweet taten – das ist nicht drin.
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