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Risse im Atomkraftwerk
Die Technologie birgt trotz des in Deutschland beschlossenen Ausstiegs weiter große Gefahren
Atomkraft? Nein danke. War da nicht mal was, irgendwann? Der Bundestagswahlkampf hat gezeigt, dass einer der großen gesellschaftlichen Konflikte der vergangenen Jahrzehnte abgeräumt zu sein scheint. Warum auch nicht, mögen viele denken. Denn der Atomausstieg laufe doch längst und die Energiewende ist auf den Weg gebracht.
Dabei wird oft vergessen, dass nach wie vor sechs große Leistungsreaktoren in Deutschland am Netz sind. Die Bundesrepublik ist damit – nach Frankreich – immer noch der zweitgrößte Atomstrom- und Atommüllproduzent in der Europäischen Union. Die symbolträchtigen und in der Vergangenheit schwer umkämpften Atomkraftwerke Brokdorf und Grohnde sowie der Meiler Gundremmingen sollen zum Jahresende abgeschaltet werden. Laut Gesetz folgen ein Jahr später, also Silvester 2022, mit Isar, Emsland und Neckarwestheim die letzten drei Atomreaktoren.
Bis zum letzten Tag müssen die Atomkraftwerke alle Sicherheitsanforderungen erfüllen. Aus Sicht von Umweltschützern mehren sich allerdings Hinweise, dass die Atomaufsichtsbehörden das nicht so ganz genau nehmen. In den Kernkraftwerken Emsland und Neckarwestheim haben sich infolge altersbedingter Korrosion – Neckarwestheim 2 ist mit 30 Jahren auf dem Buckel der jüngste noch laufende Reaktor – Spannungsrisse gebildet. Rund 300 solcher Risse gebe es allein in dem baden-württembergischen Kraftwerk, so die Antiatomorganisation »Ausgestrahlt«, die nach eigenen Angaben interne Behördenakten einsehen konnte.
Dem Betreiber EnBW, der zu großen Teilen dem grün-schwarz regierten Land Baden-Württemberg gehört, wirft »Ausgestrahlt« vor, Hinweise auf diese Rissgefahr lange verschwiegen zu haben. Und die dem von den Grünen geführten Umweltministerium unterstehende Atomaufsicht habe die Warnungen ihrer eigenen Expertengremien ignoriert und öffentlich ein Risiko bestritten. »Alle Sachverständigen, die es in der Bundesrepublik gibt, haben bestätigt, dass die Anlage höchsten Sicherheitsanforderungen entspricht«, hatte die Behörde noch im Juli behauptet, als zwei von ihr beauftragte Gutachter ein Bersten der betroffenen Rohre nicht mehr ausgeschlossen hatten.
Neben den noch laufenden Anlagen birgt auch der teils schon angelaufene und sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss der AKW Gefahren. Hier erlaubt es die Strahlenschutzverordnung, radioaktiv verstrahltes Material wie etwa kontaminierten Bauschutt als »normalen« Müll zu entsorgen – sofern die zusätzliche Belastung für eine Person zehn Mikrosievert nicht überschreitet. Bereits zur Anwendung kommt das sogenannte Freimessen: Der radioaktive Schrott wird so lange hin und her gewendet und geschleudert, bis die – nach Ansicht von Kritikern viel zu hohen – Grenzwerte unterschritten sind und die Abfälle auf normalen Deponien landen oder im Straßenbau dem Asphalt beigemischt werden können.
Außerdem ist der Atomausstieg nicht vollständig. Die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in halb Europa, darunter auch Pannenmeiler in Belgien und Frankreich, mit »Brennstoff« beliefern, haben unbefristete Betriebsgenehmigungen. Diverse Forschungsreaktoren sind ebenso noch in Betrieb, und in die Atomforschung etwa in den Forschungszentren Jülich und Karlsruhe oder an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen fließen nach wie vor erhebliche Summen aus der öffentlichen Hand.
In Frankreich ist Atomenergie wieder angesagt
Noch nicht einmal ansatzweise erledigt hat sich das Atommüllproblem. Das betrifft einerseits die neu aufgerollte Suche nach einem Endlager für die hochradioaktiven Abfälle. Nachdem die mit der Suche betraute Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) vor gut einem Jahr einen ersten Zwischenbericht veröffentlicht hat, der mehr als die Hälfte des Bundesgebietes als potenziell geeignet ausweist, ist unklar, wie und wann es nun genau weitergeht. Die BGE soll einige wenige Standorte benennen, die zunächst obertägig geprüft werden sollen. Bis dahin ist eine weitere Beteiligung der Öffentlichkeit gesetzlich nicht vorgesehen.
Völlig in den Sternen steht, was mit dem schwach- und mittelradioaktiven Atommüll passieren soll. Zwar wird dafür seit Jahren das frühere Eisenerzbergwerk Konrad umgebaut, doch der Standort steht nach massivem Bürgerprotest auf der Kippe. Die Kritik lautet, dass Konrad nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Es handelt sich um ein altes Bergwerk, es gab kein vergleichendes Auswahlverfahren. Außerdem wäre Schacht Konrad, sollte die Genehmigung Bestand haben, viel zu klein. Für die aus dem havarierten Atomlager Asse zu bergenden Abfälle und die Rückstände aus der Urananreicherung gäbe es dort gar keinen Platz. Ebenso umstritten ist das auf dem Gelände des früheren AKW Würgassen in Nordrhein-Westfalen geplante Bereitstellungslager, in dem die Abfälle für Konrad gesammelt und neu verpackt werden sollen. Durch dieses Lager würde sich die Zahl der gefährlichen Atommülltransporte durch Deutschland verdoppeln.
Hinzu kommt, dass die Betriebsgenehmigungen für die in den vergangenen Jahrzehnten an den AKW-Standorten hochgezogenen Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle in absehbarer Zeit auslaufen. Am AKW Emsland in Lingen ist dies zum Beispiel 2042 der Fall. Doch werden die bis dahin dort lagernden rund 80 Castorbehälter erst dann abtransportiert werden können, wenn ein Endlager gefunden, errichtet und in Betrieb genommen ist. Nicht vor 2080 werden alle 1900 Castoren aus den 16 Lagerhallen an den ehemaligen AKW-Standorten eingelagert sein, schätzt Michael Sailer, ehemaliger Fachbereichsleiter am Darmstädter Öko-Institut.
Womöglich droht mittelfristig sogar in eine Renaissance der Atomkraft durch die Hintertür. Lobbyorganisationen verweisen auf den im Vergleich zu Kohlekraftwerken deutlich geringeren CO2-Ausstoß von AKW. Und verschweigen dabei gern die gigantischen Umweltschäden bei der Uranförderung und -aufbereitung sowie die großen Risiken bei der Lagerung des Atommülls. Auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton spricht sich bereits für ein Comeback der Atomenergie aus – als Energiequelle für die Produktion von Wasserstoff.
In Frankreich ist die Atomkraft zudem wieder stark angesagt – und sogar zum positiv besetzten Thema im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl 2022 geworden. Präsident Emmanuel Macron kündigte am Dienstag Investitionen in Höhe von einer Milliarde Euro in den Bau kleiner Atomkraftwerke und neue Technologien für den Umgang mit Atommüll an. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Frankreich massive Investitionen in Atomkraft ankündigt.
Wenn es nach Europas Konservativen und Liberalen geht, soll der EU-Standard für nachhaltige Investitionen, die sogenannte EU-Taxonomie, künftig auch Investition in Kernkraftanlagen umfassen. Damit bekämen Investitionen in Atomkraft ein Öko-Label, ähnlich wie der Bau von Windrädern und Solaranlagen.
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