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Die Sterne in die Stadt holen
Vom Traum zum Trauma: Mit »Kinder von Hoy« erzählt Grit Lemke vom abenteuerlichen Leben in der Platte
Hoyerswerda war einmal eine Wunderstadt, aus der dann eine Schreckensstadt wurde. Im Westen kennt man es nur wegen dem Pogrom 1991 gegen Asylbewerber und Vertragsarbeiter. Lernte man in den 90er Jahren jemanden aus Hoyerswerda kennen, erkannte man das meist daran, dass man nicht gesagt bekam, woher das Gegenüber stammte. Stattdessen hieß es: »Aus der Nähe von Bautzen, ähem.« Man schämte sich für das erste große Pogrom nach Kriegsende. Geredet wurde in der Stadt trotzdem nicht darüber, das ändert sich erst heute ein bisschen.
In der DDR wurde von Hoyerswerda Großes erwartet. Es war eine Musterstadt für die Zukunft. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten dort 7000 Menschen, 1981 waren es 71 000. Die Stadt wuchs seit den 50er Jahren mit dem Gaskombinat Schwarze Pumpe (»Kohle, Gas und Energie, Schwarze Pumpe liefert sie – Energie, Gas und Kohle, der Republik zum Wohle«). Neben der Altstadt entstand die Neustadt mit Plattenbauten, die immer höher wurden. Weil das Kombinat schneller wuchs als die Stadt, wurden hier modernste Großblockbauweisen ausprobiert. Nach Eisenhüttenstadt war Hoyerswerda die zweite »sozialistische Stadt« der DDR. Ein großes Versprechen und vor allem: immer im Werden begriffen, niemals fertig.
Hoyerswerda war die kinderreichste Stadt der Republik. Die Kinder waren ziemlich sich selbst überlassen, denn ihre Eltern mussten in Pumpe arbeiten. Und sich dabei weiterbilden, denn die meisten waren als ungelernte Arbeiter in die Stadt gekommen. Die Symbolfigur war Juri Gagarin: Abflug in die neue Zeit. Deshalb wurde in den 60er Jahren auch eine Sternwarte errichtet. »Alles schien möglich zu sein: Strom aus Kohle machen, eine Stadt aus dem Heideboden stampfen und die Sterne in die Stadt holen«, schreibt die Filmemacherin Grit Lemke in ihrem Buch »Kinder von Hoy«. Es ist die Geschichte ihrer Generation, geboren in den 60er Jahren, einmal Zukunft und zurück.
Sie kam 1970 mit ihrer Familie vom Dorf in die Stadt, damals war sie fünf. »Und sobald wir angekommen sind, lernen wir: Hier gilt ein allumfassendes, gemeinsames Sorgerecht. Das Hochhaus ist jetzt unser Dorf. Zehn Stockwerke, drei Eingänge, davor ein Trafohäuschen mit Spielplatz und Äonen von Wäschestangen.«
Gemeinsames Sorgerecht heißt: Irgendeiner von den Schichtarbeitern ist immer zu Hause und tut so, als könnte er den Kindern etwas sagen. Die machen aber mehr oder weniger, was sie wollen. Allein schon deshalb, weil sie so viele sind. Zum Abendbrot sind sie wieder zu Hause, in den Wohnungen, die alle ihr Kinderzimmer an der selben Stelle haben, so dass man sich auch von Zimmer zu Zimmer verständigen kann. Wie im Gefängnis, nur dass hier die Freiheit ist.
Frei sein heißt, lernen, sich um sich selbst zu kümmern. Und um die anderen. Weil in der Stadt nie etwas fertig ist, wird man immer auf das Morgen vertröstet. Wenn das Kulturhaus erst Mitte der 80er aufmacht, dann fängt man an, seine eigene Kultur zu entwickeln. Wie die Spontis und die Punks im Westen, nur dass das hier Proletarier sind, die nicht studieren, sondern arbeiten gehen, im Schichtbetrieb.
Das kann sich im Westen niemand vorstellen, im Osten aber auch nicht, jedenfalls nicht in der Künstlerszene in Berlin-Prenzlauer Berg. In Hoyerswerda entsteht eine proletarische Boheme. Leute, die sich selbst ermächtigen und Theater machen, mit eigener Musik und natürlich viel Alkohol. Glamouröse Kleinkunst, der bekannteste Künstler wird Gerhard Gundermann. Er kommt von der Brigade Feuerstein, die auf einmal ihren eigenen Klub gründete. Wenn man da betrunken morgens raustorkelte, sah man die Schichtarbeiter in die Busse steigen, die sie nach Pumpe fuhren. »Wir bildeten jetzt ein Folk im Volk«, schreibt Lemke.
Gerade, weil Hoyerswerda Provinz war, ging da mehr als anderswo. Es spielten dissidente Liedermacher wie Stephan Krawczyk und Bettina Wegner. Und es wurden Theaterstücke aufgeführt, die in Leipzig verboten waren. Kein Ding. Im Buch erzählt einer, er hätte sich darüber später mit einem »Stasitypen unterhalten«, der mit seinem Kollegen immer in der letzten Reihe gesessen habe. Er fragte ihn, warum nie was passiert ist? »Na ja, auf’m Heimweg ham wa uns immer unterhalten über das Programm. Sollen’wa das melden oder nich? Und dann ham wa gesagt, ach weeßte, wir melden’s nich. Die ham doch Recht!«
Die »Kinder von Hoy« sprechen eine dialektgeprägte Sprache. In erster Linie hat Lemke ihre Freunde interviewt. Ihr Buch ist eine Montage aus Zitaten, Liedtexten und ihrer eigenen Erzählung, wobei sie niemals »ich« sagt, sondern stets »wir«, denn sie ist ja auch eins dieser Kinder von Hoy. Eine solche kollektive Erzählweise gibt es selten.
Gundermann hat für diese Kinder eine Hymne geschrieben: »Hoy Woy, dir sind wir treu.« Das war vor dem Pogrom und auch vor dem Zusammenbruch der DDR. Im Buch sagt einer, der Röhli genannt wird: »Jemand hat mal gesagt, das neue Gesellschaftssystem war so, wie wenn jemand Auto fahren lernt. Am Anfang muss er noch nachdenken, wann er die Bremse treten muss, wann Kuppeln und wann der Gang eingelegt wird. So waren für uns eigentlich die ganzen Neunziger. Wo sich keiner getraut hat, Kinder zu kriegen. Und nich wusste, was wer im nächsten Jahr macht, nich mal im nächsten Monat.«
Erst bricht der Staat weg, dann gehen die Firmen pleite, und die Nazis werden mehr. Die kommen nicht aus dem Westen, wie Ostalgiker gerne behaupten, sondern sind mit den »Kindern von Hoy« zur Schule gegangen. Jetzt jagen sie die Vertragsarbeiter. Im September 1991 belagern und attackieren sie das Hochhaus, in dem die Arbeiter aus Mosambik und Vietnam wohnen, fast eine Woche lang. Es hilft ihnen niemand, auch nicht die Kinder von Hoy. Die sitzen in ihrem Jugendklub und haben Angst. Dann setzt die Stadt die Vertragsarbeiter in Busse und fährt sie aus der Stadt. Sie müssen nach Mosambik zurück fliegen. Sie kriegen keine Abfindung, kein Arbeitslosengeld, keine Rente. Als gelte das deutsche Arbeitsrecht nicht für sie. In Mosambik bekommen sie keine Arbeit, sie gelten als Verräter. Denn die linke Regierung, die sie in die DDR geschickt hatte, hat den Bürgerkrieg verloren.
Die Kinder von Hoy fühlen sich auch verloren. Als die Vertragsarbeiter weg sind, werden sie von ihren Nazi-Schulkameraden angegriffen. Sie müssen gar nicht links sein, lange Haare oder Vollbart reichen schon. Sehr viele zogen dann weg. Die Hochhäuser wurden erst leerer und dann teilweise abgerissen.
Lesung und Diskussion in der nd-Literaturwoche am Dienstag, 19.10 um 19 Uhr im Salon des FMP 1, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.
Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp, 256 S., brosch., 16 €.
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