Große Worte und viele Leerstellen

Polens Premier Morawicki verteidigt im EU-Parlament jüngstes Urteil im Streit um Rechtsstaatlichkeit

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Polens Premier Mateusz Morawiecki wusste, dass er an diesem Dienstagmorgen im EU-Parlament nicht viel Applaus zu erwarten hatte. Daher konnte er seine Rede zu Beginn der Debatte in Straßburg ruhig und auf seine gewohnt wenig charismatische Art halten - denn außer scharfer Worte von linken bis hin zu konservativen Abgeordneten hatte der PiS-Politiker nichts mehr zu befürchten. Interessierter hatte er zuvor EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zugehört. Die hatte Polen im Plenum mit neuen Verfahren gedroht - und wurde während der Debatte mehrfach aufgefordert, den Ankündigungen nach mehr als zwei Jahren des »Dialogs« nun auch Taten folgen zu lassen. Konkret hatte von der Leyen neue Vertragsverletzungsverfahren, die Nutzung eines neuen Verfahrens zur Kürzung von EU-Mitteln und ein weiteres Artikel-7-Verfahren, das bis zum Entzug der Stimmrechte Polens bei EU-Entscheidungen führen könnte, ins Spiel gebracht. Morawiecki nannte dies in seiner Rede »Erpressung« und verwahrte sich gegen die in seinen Ohren »Sprache der Drohungen«.

Erneut verteidigte Morawiecki die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, das Artikel 1, 4 und 19 des EU-Vertrags als nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt hatte. In den Artikeln werden der europäische Rechtsraum, der Transfer nationaler Kompetenzen nach Brüssel, der Geltungsbereich europäischer Gesetze und vor allem die Funktion des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als oberstes Justizorgan geregelt. Vor allem Letzteres wird von der PiS-Regierung immer wieder angezweifelt. Die treffendste Zusammenfassung der Rede Morawieckis lieferte der deutsche Abgeordnete Moritz Körner von der Liberalen Fraktion: Polens Premier hätte die »Bühne für eine komplizierte Rechtshierarchiedebatte und innenpolitische Geländegewinne genutzt«. Morawiecki hatte ausführlich erörtert, warum Unionsrecht nicht über nationalem Verfassungsrecht stehen könne, wo die Grenzen der rechtlichen Integration liegen. Dass vieles auch nur ein »großes Missverständnis« sei, schließlich würden auch andere Verfassungsgerichte EU-Kompetenzen anzweifeln. Gleichzeitig zeichnete Morawiecki das Bild eines »europäischen Superstaats«, der alle nationalen Traditionen und Eigenheiten einebnet, gegen den sich Polen und andere Staaten in Mittelosteuropa zur Wehr setzen, ganz in der Tradition des Widerstands gegen Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert.

Kein Wort verlor Polens Premier jedoch zu den Disziplinarkammern zur Kontrolle der polnischen Richter, die der Auslöser der jetzigen Eskalation im umfassenderen Streit um die sogenannten Justizreformen sind. Kein Wort auch zum polnischen Verfassungsgericht, das nicht nur in den Augen der EU gar nicht als unabhängige Instanz gilt - was den Vergleich mit den Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte zwar theoretisch interessant, aber praktisch irrelevant macht. Zumal letztere nicht die Gültigkeit entscheidender Teile des EU-Vertrags anzweifeln.

Ein Problem zeigte sich am Dienstag in Straßburg wieder einmal deutlich: Durch den nunmehr sechs Jahre währenden autoritären Umbau in Polen - sei es in Fragen der Justiz, der Bürgerrechte oder der Medien - verlieren vernünftige Argumente, die Morawiecki ebenfalls vorbrachte, an Wirksamkeit wegen fehlender Glaubwürdigkeit guter Absichten dahinter. Denn natürlich ist zu hinterfragen, wie demokratisch es ist, wenn der EuGH seine Kompetenzen durch Gerichtsurteile immer weiter ausbaut. Ob es sich dabei um eine »stille Revolution« handelt, sei dahingestellt.

»Die Union wird nicht zerfallen, weil es Unterschiede in den Rechtssystemen gibt«, wollte Polens Premier beruhigen - was bei den meisten Parlamentariern wie zu erwarten nicht gelang. Stellvertretend an dieser Stelle Martin Schirdewan von den Linken, der der PiS vorwarf, eine »politische Justiz« etablieren zu wollen und dabei die Grund- und Bürgerrechte zum Beispiel von Frauen in der Abtreibungsfrage oder Flüchtlingen an der östlichen EU-Außengrenze zu missachten. Schirdewan warf gleichzeitig der Kommission Passivität vor.

Große Worte sind im EU-Parlament nicht ungewöhnlich. Dieser Hang zu pathetischen Formulierungen im dortigen Sprachgebrauch mag noch aus jener Zeit tradiert sein, als das Parlament kaum weitere politische Macht hatte, als schöne Losungen zu verkünden. Nach der Rede Morawieckis wurde allerdings deutlich, dass die »Krise des Rechtsstaat in Polen und die Frage des Vorrangs von EU-Recht«, wie die Debatte tituliert war, tatsächlich an den Grundfesten der Union rührt. Der Liberale Guy Verhofstadt, vormals Unterhändler beim »Brexit«, warf Morawieckis PiS nicht nur vor, einen »Polexit« zu riskieren, sondern einen solchen bewusst zu provozieren: das Infragestellen von EU-Verträgen und der Kampf gegen die EuGH - genau so hätten die Brexiteers auch argumentiert. »Überlegen Sie sich Ihre Entscheidungen noch einmal! Und beenden sie den Marsch des Wahnsinns!«, schleuderte der frühere Premier Belgiens dem jetzigen Regierungschef Polens entgegen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.