Endlagersuche im Ehrenamt

Die Frage, wo der deutsche Atommüll verwahrt wird, hilft auch die Journalistin Annette Lindackers zu klären

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Im Sommer 2013 tauchten in Suhl Plakate auf, die für Irritationen und Empörung sorgten. »Die Suche endet hier!«, war zu lesen und: »Euer Müll - unsere Chance!« Es ging freilich nicht um Bauschutt oder Hausabfälle, sondern die ausrangierten Brennelemente deutscher Atomkraftwerke. Eine Bürgerinitiative »Endlager Suhl« warb zwei Jahre nach der Entscheidung zum deutschen Ausstieg aus der Kernenergie dafür, deren strahlendes Erbe in der Stadt im Thüringer Wald für die Ewigkeit zu deponieren. Das Endlager, so ein Argument, würde der strukturschwachen Stadt 650 Arbeitsplätze bescheren.

Die Bürger von Suhl pfiffen auf solche Jobs. Auf der Internetseite von »Endlager Suhl« hagelte es unflätige Kommentare. »Welche Bürgerinitiative«, so wurde gefragt, »setzt sich dafür ein, den in ganz Deutschland nicht gewollten Atommüll freiwillig in das grüne Herz der Republik zu holen???« Die Antwort lautete: Keine. »Endlager Suhl« war, wie nach einiger Zeit klar wurde, eine satirische Aktion. Der Kommunikationswissenschaftler Christoph Hubrich hatte damit für seine Abschlussarbeit an der Bauhausuniversität Weimar »Grenzen der Kommunikation ausloten« wollen. Sein Fazit des Projekts: »Das Endlager wird niemals irgendwo in Deutschland ein Zuhause finden.«

Annette Lindackers teilt diese Überzeugung nicht. »Wir haben den Atommüll produziert, nun muss er irgendwo hin«, sagt sie und fügt hinzu: »Das sind wir unseren Kindern schuldig.« Lindackers, die im Umland von Dresden als freie Journalistin arbeitet und selbst Mutter von drei Teenagern ist, will dazu beitragen, dass in der Bundesrepublik ein geeigneter Standort für ein Endlager gefunden wird. Sie engagiert sich dafür im Ehrenamt: als Bürgervertreterin im »Nationalen Begleitgremium« (NBG). Das sind zwölf anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens - vor allem Wissenschaftler und ehemalige Politiker - sowie sechs Bürgerinnen und Bürger, die im Verfahren zur Endlagersuche als eine Art »Schiedsrichter« wirken sollen. Das Gremium wacht darüber, dass die Öffentlichkeit fair und angemessen beteiligt wird: »Wenn wir meinen, es gibt Fehler im System, greifen wir ein.«

In der Bundesrepublik wird seit Jahren gesucht, wo die rund 15 000 Tonnen Atommüll gelagert werden, die in deutschen Kernkraftwerken angefallen sind. Im Jahr 2013 beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Standortauswahl; seither wurden Kommissionen eingesetzt, Behörden gegründet, erste Entscheidungen getroffen. Die breitere Öffentlichkeit nimmt das alles kaum wahr. Selbst als die »Bundesgesellschaft für Endlagerung« (BGE) im September 2020 einen »Zwischenbericht Teilgebiete« vorlegte, sorgte das nur kurz für Aufsehen. Er konstatierte, wo im Land geeignete geologische Bedingungen bestehen: mindestens 100 Meter mächtige Schichten aus Salz, Ton oder Felsgestein in mehr als 300 Meter Tiefe, die zudem hitze- und wasserbeständig sind und wo die hoch radioaktiven Brennelemente für eine Million Jahre sicher verwahrt werden können. Auf der Landkarte wurden 90 Gebiete mit insgesamt 240 000 Quadratkilometer Fläche markiert - rund 54 Prozent der Fläche Deutschlands. »Das ist noch viel zu unkonkret«, sagt Lindackers: »Da fühlt sich kaum einer betroffen.«

Auch Annette Lindackers selbst interessierte sich für die Endlagersuche wenig, bis sie im Herbst 2019 einen Anruf erhielt. Fast hätte sie wieder aufgelegt: Es war abends, sie war mit anderen Dingen beschäftigt. Erst das Stichwort »Bundesumweltministerium« ließ sie hellhörig werden. Sie ließ sich Unterlagen schicken. Nach der Landtagswahl in Sachsen von 2019, bei der viel Frust gegen »die da oben« in vielen Stimmen für die AfD mündete, habe sie entschieden, sich ehrenamtlich zu engagieren, sagt sie. Lindackers ließ sich beim Verein Aktion Zivilcourage aus Pirna zur Moderatorin für Krisenkommunikation ausbilden, und sie konnte sich auch vorstellen, sich dem heiklen Thema Endlagersuche zu widmen: »Ich wollte etwas tun für die Gesellschaft.«

Es stellte sich dann heraus, dass Lindackers eine von rund 57 000 Bürgerinnen und Bürgern war, die nach dem Zufallsprinzip angefragt und aus denen in einem zweistufigen Verfahren neue Mitglieder für das NGB ausgewählt wurden. Die dort vertretenen Bürger und Bürgerinnen, die für drei Jahre gewählt sind und auch für zwei weitere Amtszeiten wiedergewählt werden können, sollen »die Vielfalt der Gesellschaft« widerspiegeln. Es ging also um Kriterien wie Ost und West, Mann und Frau, alt und jung. Um Expertise in Sachen Kernenergie ging es nicht.

Die hätte Lindackers auch gar nicht bieten können, obwohl sie studierte Umwelttechnologin ist und sich auch mit Abfalltechnik beschäftigt hat. Atommüll spielte dabei aber keine Rolle. Sie hatte sich auch nie in einer der Anti-AKW-Gruppen in der alten Bundesrepublik engagiert, obwohl sie in Göttingen aufwuchs, von wo es nicht weit nach Gorleben ist. Der dortige Salzstock wurde 1977 als Endlager ausgewählt; eine rein politische Entscheidung, die auf viel Widerstand stieß. Kritiker hielten den Standort für geologisch ungeeignet; die Politik hielt daran fest und setzte die Erkundungen noch bis Anfang der 2010er Jahre fort. Dass die Gräben in der deutschen Endlagerdebatte heute so tief sind und sich Behörden und Bürgerinitiativen so unversöhnlich gegenüberstehen, hat viel mit dem Streit um Gorleben zu tun. Die jetzt laufende Suche solle daher nicht von politischen Maßgaben geleitet sein, sondern »wissenschaftsbasiert« erfolgen, betonte die Endlagerkommission 2016. Gorleben wird als Endlager inzwischen ausgeschlossen.

Allzu viel detailliertes Fachwissen hat sich Lindackers auch nicht angeeignet, seit sie im Dezember 2019 ihre Arbeit im NBG aufnahm. Lindackers will sich einen unvoreingenommenen Blick bewahren: Sie habe »nicht den Anspruch, als Geo- oder Atomwissenschaftlerin aus der Arbeit herauszugehen«, sagt sie. Vielmehr gehe es darum, sich die Perspektive des interessierten Laien zu bewahren. Dafür war ihr Anspruch an die Wirksamkeit der Arbeit im Gremium um so höher: Sie wolle »aufklären, erklären, Menschen einbeziehen«, sagte sie im September 2020, kurz bevor die BGE den Zwischenbericht vorlegte, der »Süddeutschen Zeitung«. Sie fügte an: »Ich wollte die Jeanne d'Arc der deutschen Atommülllagersuche werden.«

Gut ein Jahr später klingt die Jeanne d'Arc ein wenig ernüchtert. Die öffentliche Debatte hat sich, weil das Szenario nach wie vor wenig konkret ist, nicht wie von ihr erwartet zugespitzt. Zwar folgte auf den Zwischenbericht eine erste Phase, in der die Beteiligung der Öffentlichkeit vorgesehen war: drei so genannte »Fachkonferenzen Teilgebiete«, in denen Bürger*innen, Initiativen, Kommunen und Verbände mit Wissenschaftler*innen und Behördenvertreter*innen debattierten. Corona sorgte aber dafür, dass die Runden mit Hunderten Teilnehmenden meist nur virtuell stattfanden. Es gab Probleme: streikende Technik, eine überforderte Moderation, Termine in den Sommerferien. »Da ist im Detail viel zu verbessern«, sagt Lindackers. Das NBG sammelte nach jeder der Konferenzen die Kritik ein. Ihr Fazit legt das Gremium am 6. November als Bericht vor und bündelt die Diskussionen in einer eigenen Veranstaltung mit dem Titel: »Wie gelingt gute Beteiligung? Bilanz und Perspektiven«.

Es sind freilich nicht nur technische und organisatorische Details, die Lindackers ärgern. Viel nachdenklicher stimmt sie, dass ein Thema, das die gesamte Gesellschaft betrifft, nach wie vor nur wenige hinter dem Ofen hervorlockt - allen voran die »alten Hasen der Anti-AKW-Bewegung«. An weiten Teilen der Bevölkerung und des Landes aber geht die Debatte vorbei. Wenn Lindackers in ihrem Freundeskreis über ihr Ehrenamt spricht, erntet sie Erstaunen: In Deutschland läuft eine Endlagersuche? Bürgermeister und ein kommunaler Spitzenverband in Sachsen, die sie auf das Verfahren ansprach, wussten davon nichts. Was, fragt Lindackers, »läuft falsch, dass nicht mehr Interesse geweckt wurde?!«

Lindackers ist sicher, dass sich die Lage ändern wird, und zwar sobald die Suche weiter eingeengt und Regionen vorgeschlagen werden, in denen tatsächlich mit der oberirdischen Erkundung begonnen wird: »Dann wird es greifbarer«, sagt sie, »dann wird es donnern.« Allerdings weiß keiner, wann das ist. Die Eingrenzung der Standorte könnte noch mehrere Jahre dauern, heißt es. Das Gesetz legt ausdrücklich fest, dass in dieser Zeit neue Wege der Beteiligung erschlossen werden können, es gibt dafür aber keine Vorgaben. Umweltverbände und Bürgerinitiativen beklagen eine »Partizipationslücke«. Das NBG drängt das zuständige Bundesamt für die Sicherheit der nationalen Entsorgung (BASE) und auch die Politik, eine weitere Beteiligung zu ermöglichen. Im Sommer war es über die Frage fast zum Eklat gekommen; nun soll bis November weiter nach einem Kompromiss gesucht werden.

Auch wenn dieser gefunden wird, ist nach Ansicht von Annette Lindackers mehr Mühe nötig, um das Thema Endlagersuche in die breitere Öffentlichkeit zu tragen. Kirchen, Kommunalpolitiker*innen und Gewerkschaften könnten es aufgreifen, und nicht zuletzt im Unterricht müsste es eine Rolle spielen - schließlich werden selbst die Kinder heutiger Grundschüler*innen zur Schule gehen, bevor das Endlager irgendwann nach 2050 in Betrieb genommen wird. »Wir müssen Jugendlichen stärker klar machen, wie sehr sie das Thema betrifft«, sagt Lindackers, »auch wenn es uns jetzt noch so wenig greifbar erscheint.« Zugleich müsse die jetzige Generation aber dazu beitragen, den Streit um das Endlager beizulegen: »Wir haben die Suppe schließlich eingebrockt.«

Lösbar, merkt sie an, ist der Konflikt durchaus. In Finnland, wo die Endlagersuche schon seit 1983 lief, gab es am Ende einen harten Wettbewerb zwischen zwei möglichen Standorten, der verbunden war mit der Hoffnung auf Jobs und viel Geld. Der Gemeinderat des siegreichen Örtchens Eurajoki stimmte am Ende mit 20 zu sieben Stimmen für die Errichtung des Endlagers auf der benachbarten Halbinsel Olkiluolo. Der Ort war seit Jahrzehnten Atomstandort; die Bewohner hätten eine »fast symbiotische Beziehung« zur Kernkraft, merkten Beobachter an. Mit Blick auf das Endlager lautete die Devise in dem Örtchen allerdings gewissermaßen auch: Euer Müll - unsere Chance. Und anders als vor ein paar Jahren in Suhl war das überhaupt keine Satire.

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