- Politik
- Entwicklungspolitik
»Hunger ist Mord«
Entwicklungsminister Gerd Müller mahnt bei seinem Abschiedsbericht eine neue Verantwortungsethik an
Wenn der Herz-Jesu-Sozialist Gerd Müller (CSU) spricht, fehlt es nicht an Leidenschaft. Das war bei seiner letzten Pressekonferenz als Entwicklungsminister nicht anders. »Hunger ist Mord, 15 000 Kinder sterben täglich, in Jemen, in der Sahel-Zone, in Madagaskar.« Und was den seit 2013 amtierenden Entwicklungsminister daran am meisten aufregt, ist, dass all die Toten vermeidbar wären. »Wir haben das Wissen und die Technologie, alle Menschen satt zu machen.« Es leuchtet ihm nicht ein, warum dieses Thema nicht an erster Stelle auf der politischen Agenda ist, zumal es mit Folgeproblemen verknüpft sei. Hunger und Armut seien die Auslöser für Migration.
Bei der Vorstellung des 16. Entwicklungspolitischen Bericht, den das Bundeskabinett kurz zuvor in seiner Sitzung am 20. Oktober beschlossen hatte, warf Müller einen Blick zurück und voraus. Und er ordnete die Entwicklungspolitik und Deutschland in globale Zusammenhänge ein. 80 Prozent der Menschen auf der Welt lebten in Entwicklungs- und Schwellenländern, ein Prozent der Welt lebt in Deutschland. 80 Millionen Menschen kämen jährlich neu bei der Weltbevölkerung hinzu – einmal Deutschland. Das Denken im nationalen Hamsterrad würde den globalen Blick verstellen. Nichts gegen Lastenräder in Deutschland, aber eine Lösung für den Klimawandel sei das noch nicht.
Müller machte globale Herausforderungen aus, der sich nicht nur die Entwicklungspolitik zu stellen hätte. Die Begrenzung des Klimawandels, die Sicherung der Welternährung, der Schutz globaler Güter wie Wasser und Wälder, die Bekämpfung von Pandemien. Diese Überlebensfragen der Menschheit seien auch die zentralen Zukunftsaufgaben der deutschen Entwicklungspolitik. »Und mehr denn je sind sie auch Querschnittsaufgaben unserer gesamten Politik.«
Müllers Anspruch an Entwicklungspolitik ist hoch: Friedenspolitik. Deshalb stellte er eine klare Forderung an die künftige Bundesregierung: »Wer zwei Prozent bei Rüstung anstrebt, der muss sich auch (für) mindestens ein Prozent für Entwicklungszusammenarbeit und internationale Kooperation aussprechen.« Den wieder einmal von der FDP forcierten Pläne zur Eingliederung des Entwicklungsministeriums ins Auswärtige Amt erteilte er eine Absage: »Wir brauchen ein starkes Entwicklungsministerium.«
Auf der Habenseite seiner Amtszeit verbuchte Müller das Lieferkettengesetz, das staatliche Textilsiegel Grünen Knopf, das Erreichen des 0,7-Prozent-Ziels sowie Afrika als Schwerpunkt gesetzt und lösungsorientiert gearbeitet zu haben, etwa bei der Solarpartnerschaft mit Indien. Dass das deutsche Lieferkettengesetz nicht reicht, um globale Standards für faire Produktion und den Schutz von Menschenrechten und Umwelt zu setzen und der Grüne Knopf nur ein Einstieg in eine faire Textilproduktion ist, ließ Müller unerwähnt, weiß er aber sicher auch. Dass er ein Lieferkettengesetz auf europäischer Ebene anmahnte, das in Arbeit ist, zeigte das.
Der 66-jährige CSU-Politiker wird Ende des Jahres als Generaldirektor der UN-Organisation für industrielle Entwicklung politisch auf die globale Ebene wechseln. Den globalen Blick hat er schon lange: Die zehn reichsten Menschen der Welt rund um Amazon-Gründer Jeff Bezos und Tesla-Chef Elon Musk hätten ein Vermögen, das dem der unteren Hälfte der Weltbevölkerung (7,9 Milliarden Menschen, d. Red) entspräche. Auch deswegen sei eine neue Verantwortungsethik in der Politik überfällig, um den globalen Herausforderungen gerecht zu werden – eine faire Welthandelsordnung mit gerechter Besteuerung sind da für Müller wesentliche Bausteine. Der Entwicklungsminister nannte dafür konkrete Ideen wie eine europäische Finanztransaktionssteuer von 0,01 Prozent auf Derivate und Spekulationsgeschäfte beim automatisierten Hochfrequenzhandel an der Börse. Damit könnten laut Schätzungen 60 bis 80 Milliarden Euro erlöst werden, die in globale Gerechtigkeit investiert werden. Über die Finanztransaktionssteuer wird seit Jahrzehnten ergebnislos international diskutiert.
Zuspruch und Lob erhielt der Minister von Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt und Eberhard Brandes, Vorstand der Umweltschutzorganisation WWF. Aber auch die beiden stellten klar: Es gibt noch viel zu tun in der Entwicklungspolitik und weit darüber hinaus.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.