- Wirtschaft und Umwelt
- Squid Game
Das Drama der Privatschulden
Netflix-Serie spielt auf eine ganz reale Krise in Südkorea an
Seong Gi Hun bleibt keine andere Wahl mehr, als zu spielen. Zu hoch sind seine Schulden, zu bedrohlich seine gewalttätigen Gläubiger. Also geht der arbeitslose, geschiedene Vater einen Pakt mit dem Teufel ein: Er lässt sich dabei filmen, wie er gegen 455 andere Erwachsene mit ähnlichen Problemen in simplen Spielen antritt, die jeder von ihnen noch aus der Kindheit kennt. Wer alle Runden gewinnt, dem werden alle Schulden beglichen. Wer verliert, wird erschossen.
Seong ist der Protagonist von »Squid Game«, der derzeit erfolgreichsten Serie auf der Online-Videoplattform Netflix. In mehr als 60 Ländern steht die südkoreanische Produktion an der Spitze, mehr als 111 Millionen Menschen haben sie schon gestreamt. Laut einer Analyse des Finanzdienstleisters Bloomberg soll die Marke mittlerweile rund 900 Millionen US-Dollar wert sein. Dagegen hat die Produktion, deren erste Staffel seit Mitte September verfügbar ist, rund 21 Millionen gekostet. Wohl noch nie war eine Erzählung rund um private Verschuldung derart profitabel.
Für weltweite Begeisterung sorgen die blutrünstigen Bilder, die satten Klänge, die vollen Farben und die starken Emotionen, die »Squid Game« zeigt. Dem Drehbuchautor Hwang Dong Hyuk gelingt es mit seiner Geschichte, moralische und finanzielle Dilemmata und die Hoffnung auf Sorglosigkeit und Wohlstand nachvollziehbar zu beschreiben. Hwang macht dies mit Zuspitzungen, wie sie zuletzt immer wieder aus dem südkoreanischen Film gekommen sind, so etwa im oscargekrönten Klassenkampfdrama »Parasite«: Kapitalismus erscheint als kalte, brutale und absurde Dystopie.
In Südkorea selbst ist die Rezeption von »Squid Game« etwas anders. Der Titel bezieht sich auf das vom Spielplatz bekannte »Tintenfischspiel«, bei dem sich Kinder hüpfend und ringend aus auf den Boden gemalten Feldern verdrängen. Gewinnen kann am Ende nur einer. Mit dieser Erinnerung aus seiner eigenen Jugend formuliert Autor Hwang eine Metapher auf Südkoreas Konkurrenzgesellschaft. »Was ich zeigen will, ist die Idee, dass wir uns auch an die Verlierer erinnern sollten«, sagte er gegenüber südkoreanischen Medien. »Die Gewinner unserer Gesellschaft stehen symbolisch auf den Körpern der Verlierer.« So funktioniere der Wettbewerb.
Diese Sicht ist erstaunlich, denn international hat Südkorea den Ruf eines einzigartigen Wirtschaftswunderlandes. Nach dem Krieg und der Teilung 1953 gehörte es zu den ärmsten Ländern der Welt. Mit kluger Industrie- und Bildungspolitik, einer strengen Arbeitsmoral sowie dem starken Fokus auf Marktwirtschaft gelang es Südkorea, über die folgenden drei Jahrzehnte zu einem Industriestaat aufzusteigen. Der schnelle Weg zum Wohlstand für viele wird heute als »Wunder des Han-Flusses« bezeichnet.
Doch nach einigen Spekulations- und Wirtschaftskrisen sowie wegen der Übermacht einiger Konzerne hat das Wunder längst seine einstige Strahlkraft verloren. Mehr als ein Viertel der Arbeitsbevölkerung ist heute prekär beschäftigt und kann kaum Geld ansparen. Um einen der mittlerweile raren Vollzeitjobs in einem Großunternehmen zu ergattern, müssen Familien in der Regel erst Zehntausende Euro auf dem weitgehend privaten Bildungsmarkt investieren. Und da sich die Ökonomie größtenteils in Seoul konzentriert, sind die Immobilienpreise hier über die Jahre stark gestiegen. Das Wohnen im Stadtzentrum wird zusehends zum Luxus.
Diese Faktoren und eine eklatante Abwesenheit des Sozialstaats führen dazu, dass Südkorea seit Jahren unter einer besonderen Krise leidet: den Privatschulden. Mit zusammen 1,5 Billionen Dollar übersteigen die Verbindlichkeiten der privaten Haushalte die jährliche Wirtschaftsleistung. Im September legte die Verschuldung wieder um knapp sechs Prozent gegenüber dem Vormonat zu - das entspricht etwa der Höhe des avisierten Wirtschaftswachstums. Die Zentralbank teilte kürzlich mit, dass sechs Prozent der Menschen ein »kritisches Level« an Verschuldung erreicht hätten - ihre Einnahmen gehen vor allem für die Schuldentilgung drauf.
Die Arbeiterikone Han Sang Gyun fühlt sich bei »Squid Game« an die aktuelle Lage in Südkorea erinnert: »Ich konnte keinen Moment wegsehen, weil die Realität so klar und brutal dargestellt wird«, sagt er. Zwar würden die sozialen Verlierer natürlich nicht wie in der Serie einfach erschossen, aber wer sich im demokratischen Südkorea betrieblich organisiere oder Proteste anzettele, müsse schon bei kleinen Regelüberschreitungen für Jahre ins Gefängnis.
Han, der vielen in Südkorea als Vorlage für den Protagonisten von »Squid Game« gilt, verbrachte selbst zwei Jahre hinter Gittern, nachdem es bei Demonstrationen zu Ausschreitungen gekommen war. Als Vorsitzender der innerbetrieblichen Gewerkschaft beim Automobilkonzern Ssangyong organisierte er im Jahr 2009 die Proteste gegen geplante Massenentlassungen im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen. Immerhin erreichten Han und seine Mitstreiter Jahre später einen Teilerfolg - zumindest einige Hundert der 2600 gekündigten Arbeiter konnten an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Und Han wurde Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbandes KCTU.
Vor dem Teilerfolg hatten die Entlassungen bei Ssangyong aber bereits mehrere Leben ruiniert. Laut einer Untersuchung der Korea University in Seoul nahmen 26 Menschen, die wegen der Einnahmeausfälle ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten, sich das Leben. Menschenrechtsorganisationen kritisieren immer wieder den schwachen Schutz von Arbeitnehmern sowie die Schrankenlosigkeit des Marktes in Südkorea. Hinzu kommt die Marktmacht von Großkonzernen wie Samsung, LG oder Hyundai, die nicht selten erfolgreich Druck auf die Regierung ausüben.
Für das südkoreanische Publikum von »Squid Game« sind die Bezüge zur wahren Welt offensichtlich. Da sind nicht nur die Kriminalisierung der Gewerkschafter und die Furcht vor Entlassung und Überschuldung. Auch gibt es die Arbeitsmigranten aus ärmeren Ländern Asiens, denen von Arbeitgebern die Lohnzahlung verweigert wird, nicht nur im TV-Drama. Und dann sind da noch die Flüchtlinge aus Nordkorea, die sich im radikalen Kapitalismus Südkoreas oft nur schwer zurechtfinden, was wohl ein Grund für die hohe Selbstmordrate unter ihnen ist.
Auf einen weiteren Aspekt wies die linksliberale Tageszeitung »Hankyoreh« kürzlich hin: »Südkoreas Kleinunternehmer müssen ihr eigenes ›Squid Game‹ spielen.« Gerade durch die Corona-Pandemie hätten viele Ladenbesitzer und andere Selbstständige stark zu leiden. Fast die Hälfte sieht sich laut einer Umfrage von der Pleite bedroht. Bei mehr als 80 Prozent haben die Verbindlichkeiten gegenüber Banken seit Beginn der Pandemie um mindestens 42 000 US-Dollar zugenommen. Bei jungen Menschen unter 30, die oft Kredite für ihre Ausbildung aufgenommen haben, ist die Verschuldung binnen eines Jahres um 21 Prozent gestiegen - und das bei schlechteren Zusatzverdienstmöglichkeiten.
Der Konsum im Land wird durch die hohe Schuldenlast schon länger gehemmt. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, ein Dachinstitut der wichtigsten Zentralbanken, befürchtet hierin den Auslöser für eine möglicherweise bevorstehende Kredit- und Wirtschaftskrise in Südkorea. Antworten der Politik lassen auf sich warten.
Kein Wunder also, dass Formate wie »Squid Game« gerade aus Südkorea kommen und dort auch höchst erfolgreich sind. Kann der Hype um diese Serie etwas am schrankenlosen Kapitalismus im Land ändern? »Da bin ich skeptisch«, sagt Gewerkschafter Han Sang Gyun nach kurzem Überlegen. »Ich befürchte, dass das eher ein Konsumprodukt bleibt, das bald wieder vergessen wird.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.