Gegen den Strom der Zeit

Theodor Wolff setzt einer couragierten Frau ein literarisches Denkmal

  • Lesedauer: 9 Min.

Der Berliner Journalist Theodor Wolff (1868-1943) schrieb auch Sachbücher, Theaterstücke und Romane. »Die Schwimmerin« war sein letztes Werk und erschien 1937 in Zürich. Wolff lebte da schon drei Jahre im südfranzösischen Exil. Der »Roman aus der Gegenwart«, so der Untertitel, erzählt die Geschichte der Liebe eines älteren Mannes zu einer jungen Frau vor der Folie der politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen der Epoche. Der Mann ist Bankier, Hedonist und »Mann ohne Eigenschaften« (nicht umsonst heißt er Ulrich), der sich aus allem raushält - also das genaue Gegenteil von Wolff. Sie, Gerda Rohr, ist politisch aktiv, brennt für die linksrevolutionären Bewegungen und erträgt nicht seine Passivität. Man kann in ihr Wolffs ehemalige Sekretärin, Ilse Stöbe (1911- 1942), erkennen, Widerstandskämpferin und sowjetische Spionin, die von den Nazis hingerichtet wurde. Wolffs Roman ist vieles zugleich: Liebesgeschichte, Sozialgeschichte, Berlin-Porträt, ein wehmütiger Nachruf auf die Weimarer Republik, Vorahnung des bevorstehenden Untergangs, Beschreibung des Lebens im Exil.

An einem Tage im Mai des Jahres 1918 ließ sich Ulrich Faber in seinem Schlafzimmer im Hotel den linken Arm neu verbinden, der in dem Kampfgewühl an der Westfront verwundet worden war. Der Granatsplitter hatte den oberen Armansatz getroffen, als Faber bemüht gewesen war, seinen verschütteten Kameraden, den Leutnant Lorenz Münch, aus dem zerschossenen Graben herauszuziehen. Der Arzt, ein eifriger, freundlicher Herr, war so erfüllt von seiner wissenschaftlichen Mission, wie die über den Jammertälern schwebenden Erzengel von der Gewißheit der göttlichen Gnade erleuchtet sind. Er erklärte mit mildem Ernst, das Ergebnis der Röntgenuntersuchung sei zwar nicht ganz ungünstig, aber auch nicht brillant. Auch der beste Spezialist könne in diesem Stadium nicht sagen, ob der Arm, erfreulicherweise der linke, ganz die frühere Kraft und Beweglichkeit wiedererlangen werde, aber man müsse dem Himmel dankbar sein, denn zwei Zentimeter weiter nach rechts wäre der Geschoßtreffer tödlich gewesen, da hätte die ärztliche Kunst aufgehört. »Daran sind wir« - er pflegte »wir« zu sagen, als ob er sämtliche Verwundungen mit erhalten hätte - »gerade noch glücklich vorbeigekommen.«

Der Autor und die Nachwort-Autorin

Theodor Wolff war von 1906 bis 1933 Chefredakteur des »Berliner Tageblatts« und damit der einflussreichste Journalist der Weimarer Republik. Noch heute erinnert der Theodor-Wolff-Preis, der wichtigste deutsche Journalistenpreis, an ihn. Im Theodor-Wolff-Park in Berlin ist die letzte Zeile seines letzten Artikels zitiert: »Geht hin und wählt!« Wolff emigrierte mit seiner Familie nach Südfrankreich, wurde aber im Mai 1943 in Nizza verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert. Im Gefängnis Berlin-Moabit zog er sich eine Krankheit zu, an der er am 20. November 1943 im Jüdischen Krankenhaus starb.

Ilse Stöbe wurde im September 1942 verhaftet und am 22. Dezember in Plötzensee hingerichtet. An sie erinnert eine Gedenktafel vor dem Haus Frankfurter Allee 233 in Berlin.

Ute Kröger studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Sie lebt und arbeitet als Literaturwissenschaftlerin und Lektorin in Zürich und publiziert zu Kultur-, Theater- und Literaturgeschichte der deutschsprachigen Schweiz und ihrer Institutionen.

Während er vor dem Arzt stand, der den Arm einschiente, umwickelte und in die richtige Lage brachte, blickte Ulrich Faber in offenbar angenehmer Stimmung durch die offene Tür in den Salon, in dem die blonde Dina Holgers sich mit kleinen gymnastischen Übungen drollig die Zeit vertrieb. Immer wenn er ihre feinlinige Anmut betrachtete, bereitete ihm das ein ästhetisches, künstlerisches Vergnügen, und es war ihm klar, daß er sie mehr noch mit den Augen als mit jenen Sinnen genoß, von denen sonst in seinen Beziehungen ein starker Antrieb kam. Ulrich Faber, der neben dem schon recht baufälligen Seniorchef Friedrich Dönhoff das angesehene Bankhaus Dönhoff, die bedeutendste Berliner Privatbank, leitete, war jetzt 43 Jahre alt. Er war, mit seiner mittelgroßen, kräftigen Gestalt, mit Schultern, deren Zuverlässigkeit nicht durch Aufpolsterung vorgetäuscht wurde, und mit einem gebräunten Gesicht, dichten Augenbrauen, einer nicht absolut klassisch geformten Nase, einem ansehnlichen Mund, den ein kleiner, ein wenig abwärts gebogener Schnurrbart überwölbte, und einem Kinn ohne weichliche Fleischlichkeit keineswegs eine einwandfreie Männerschönheit, aber man spürte eine robuste Vitalität. Das volle, über der breiten, gutgemeißelten Stirn noch dunkle Haar begann an den Schläfen bereits zu ergrauen. Ziemlich häufig wurde - Schmeichelei oder Vorwurf - in seinem Gesicht ein ironischer Zug konstatiert, obgleich niemand sagen konnte, ob diese Ironie sich in seinen Augen oder in den Mundwinkeln verriet oder wo und wie sonst sie zu entdecken sei. Seine Haltung und seine Bewegungen hatten eine ruhige, natürliche weltmännische, auch durch die Behinderung des eingeschnürten linken Armes nicht beeinträchtigte Leichtigkeit. Diese sichere Gewandtheit des Auftretens hatte sich in dem Verkehr mit Menschen aus vielen Ländern noch entwickelt und wurde um so mehr bemerkt, da etwas doch auch an den schwäbischen Gastwirtssohn erinnerte, der gewiß recht anständige Flaschenkisten aus dem väterlichen Keller hätte herauftragen können.

Ulrich Faber war nicht, wie manche glaubten, ein Mitglied der berühmten Bleistiftfamilie, sondern, wie die besser eingeweihten Neider gern berichtigten, der Sohn eines Gastwirts bei Stuttgart, des Wirtes vom »Grünen Baum«. Dieser Gasthof war seiner ausgezeichneten Küche wegen allen Feinschmeckern der Gegend bekannt und ein beliebter Treffpunkt der lebenslustigen Gesellschaft gewesen, aber ein tragisches und ziemlich skandalöses Ereignis hatte den Kochkünsten, dem Vergnügen und gleichzeitig dem Dasein des Wirtes Faber ein Ende gemacht. Eberhard Faber war, noch als er die Siebzig schon überschritten hatte, ein großer und erfolgreicher Freund der Frauen. In einer Rauferei erschlug ihn mit einem Stuhlbein ein eifersüchtiger Ehemann, ein Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft. Der »Grüne Baum« büßte unter den späteren, solider wirtschaftenden Besitzern die Sympathien der Kundschaft ein. Ulrich Faber lebte bei seiner Mutter, bis er mit einem Stipendium aus einer englischen Stiftung, das ihm Gönner verschafften, als Student nach Cambridge ging. Ein anderes Stipendium ermöglichte ihm eine Studienreise nach Amerika. Er schrieb eine Broschüre über die Organisation der Arbeit, von der hervorragende Persönlichkeiten der Schwerindustrie ärgerlich sagten, sie sei im Grunde der reine Dilettantismus und in höchstem Grade anfechtbar. Viele fanden es unverständlich, daß dann der konservative Friedrich Dönhoff diesen Ulrich Faber in seine Bank nahm und ihm nach einiger Zeit sogar einen Hauptteil der Führung überließ. Der Abgeordnete Ammon, Syndikus des Westdeutschen Messing-Konzerns, pflegte denjenigen, die sich wunderten, zu sagen: »Das Publikum ist so sehr mit neuen halbwissenschaftlichen Wirtschaftstheorien und sozialen Problemen gefüttert worden - der alte Dönhoff will zeigen, daß seine Firma nicht erstarrt und sich neuen Ideen nicht verschließt -, darum hat er ihr dieses moderne Schmuckstück angefügt.«

Der alte erfahrene Dönhoff hatte sich Ulrich Faber aber nicht nur so geholt, wie manche schöngeistige Dame, um ihre Gäste zu unterhalten und zu verblüffen, einen echten Bolschewisten an ihre Tafel setzt. Er wollte auch nicht nur der Kundschaft mitteilen: »Wir offerieren Ihnen das Neueste auf jedem Gebiet.« Er hatte seiner Firma das ungewöhnliche Talent Fabers, Verhandlungen zu führen, sichern wollen. Auch in den Kreisen der Regierung erkannte man diese Begabung, und Ulrich Faber, der seiner Verwundung wegen nicht mehr zum Kriegsschauplatz zurückkehren konnte, wurde gerade jetzt wieder mit allerlei unbequemen wirtschaftlichen Aufträgen betraut. Besonders gefiel dem alten Bankier der nüchterne Skeptizismus, mit dem Ulrich Faber oberflächliche, tausendfach nachgeschwatzte Meinungen zersetzte, angebliche, niemals bis ans Ende durchdachte Wahrheiten entlarvte und sich von keinen Illuminationen der Phrase blenden ließ. Die Augen Friedrich Dönhoffs blinzelten behaglich, wenn Faber in einer Diskussion dem Herrn Schmidt, dem einen der beiden Direktoren, gegenüberstand. Der Alte konnte den Direktor Schmidt, diesen »bombastischen Feldwebel«, wie er sagte, nicht leiden, aber er hatte die Gelegenheit, ihn loszuwerden, verpaßt. Wenn Herr Schmidt, die Brust wölbend, über eine geschäftliche Angelegenheit Bericht erstattete, wurde eine Nationalhymne daraus.

Dina Holgers hatte ihre Freiübungen beendet und strich, vor einem Spiegel stehend, ihr helles mattgrünes Frühlingskleid glatt. Das Sonnenlicht, das durch das weitgeöffnete Fenster des Salons eindrang, umspielte die Falten dieses mattgrünen Kleides, betastete den Hals und das kleine rosige Ohr und veranstaltete Beleuchtungseffekte in dem blonden Haar. Es näherte sich auch dem Bild von Claude Monet, das neben dem Kamin hing, dem wehenden Kornfeld mit glutroten Mohnblumen - ganz ähnlich dem Bilde der Sammlung Caillebotte. Ulrich Faber fand, daß diese heitere und nicht brennende Maisonne um Dina Holgers die richtige Atmosphäre schuf. Er hatte Dina Holgers in Kopenhagen kennengelernt, als sie dort auf der Bühne die großen Rollen in den erfolgreichsten Operetten spielte, und sie war ihm einige Zeit später nach Berlin gefolgt. Sie hatte eine reizende, an der Spitze amüsant aufgebogene Nase, eine blonde Frisur, die auf Wunsch der Damen alle Haarkünstler kopierten, lange schmale Hände und ein auffallend feines, biegsames Handgelenk. Sie war graziös, immer gut gelaunt, nicht anspruchsvoll, und tadelte es, daß Faber bei den teuersten Schneiderfirmen für sie arbeiten ließ. Jetzt war sie der Star einer Berliner Bühne, aber sie hatte seit langem schon Anträge von Agenten und Filmgesellschaften in New York und Hollywood angenommen, und nur der Krieg war eine Entschuldigung für einen Aufschub, der sehr willkommen war. Sie hatte Faber gern, bei dem Gedanken an die Trennung huschte ein Schatten über die heitere Gegenwartsstimmung, und Faber empfand den Charme eines Liebesverhältnisses, das von dramatischen Zwischenfällen und beengenden Rücksichten frei war, in keiner Minute eintönig wurde oder wie abgestandener Wein erschien. Dabei wußte er, daß es noch etwas Stärkeres gab als die Gefühle, die sich in den übrigens niemals schwächlichen Umarmungen Dinas ausdrückten, und daß die Natur in manchen Frauen drängender strömte als in Dinas reizender Persönlichkeit. Aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß dieser unterirdische Trieb in den Frauen selten so mächtig und übermächtig ist, wie man es den Romanlesern erzählt. Wenn sie Medeen sind, oder auf andere Art die Tragödie der Leidenschaft aufführen, entstehen ihre Handlungen zumeist nicht aus dem unwiderstehlichen Bedürfnis, so zu lieben und geliebt zu werden, sondern aus der Verbitterung der Vereinsamten, aus dem Zorn über einen Wortbruch und aus verletztem Stolz, aus Rachsucht und Eifersucht. Gott sei Dank, Dina Holgers spielte nicht tragische, finstere Rollen und war auch, bei aller liebevollen Anhänglichkeit, kein »crampon«, wie man in Frankreich sagt. Einen Moment lang dachte Faber an eine andere - wahrscheinlich würde sie ihm heute noch begegnen -, und in diesem Augenblick fragte der Arzt: »Sie zucken ein bißchen ungeduldig, drückt Sie der Verband?«

Als sie jetzt aus dem Salon hereinkam, sah Dina Holgers zu, wie der Arzt dem kunstvollen Verband die letzte Vollendung verlieh. In ihrem Blick lag eine wohltuende Zärtlichkeit. Sie sagte: »Finden Sie es richtig, daß er morgen nach Amsterdam fahren will? Der Minister hätte auch einen anderen schicken können.« Faber tat beleidigt: »Offenbar findet er nicht wie du, daß ich leicht zu ersetzen bin.« - »Dummer Kerl !« Sie vollzog eine Drehung, die ihre Verachtung ausdrücken sollte, und trällerte das Lied aus der Nitouche: »Ach der Soldat, ach der Soldat, ach der Soldat war nur aus Blei !« Inzwischen steckte der Arzt, nachdem er sein Werk noch einmal anerkennend geprüft hatte, die alles kleidsam verdeckende schwarze Seidenbinde mit Nadeln fest. Er erklärte, auch er sei mit der Reise nach Amsterdam nicht ganz einverstanden, aber er habe schon, für alle Fälle, einen ihm befreundeten holländischen Chirurgen mit den nötigen Instruktionen versehen, und er selbst würde gewiß nicht imstande sein, Herrn Faber von der Erfüllung einer Pflicht, in einer offenbar wichtigen Sache, abzubringen.

Theodor Wolff
Die Schwimmerin.
Roman »aus der Gegenwart«
Mit einem Nachwort von Ute Kröger.
Weidle-Verlag
356 S., kt., 25 €

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